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Oberst von Riesenstein

In der Stadt Breslau wohnte eine Gräfin mit ihren Töchtern, zwei schönen jungen Damen. Seit Jahren leidend, fasste sie den Entschluss, die heilkräftigen Bäder von Karlsbad aufzusuchen. Das war den jungen Damen sehr lieb, denn so sehr die Mutter nach der Kur verlangte, so sehr freuten sie sich auf die Badegesellschaft und die vielen Lustbarkeiten, die man an solchem Orte antrifft. Die Gräfin nahm daher nach damaliger Sitte eine Postkutsche und stieg mit ihren Töchtern und einer Zofe ein. Der Johann musste neben dem Kutscher auf dem Bocke sitzen.

Es war ein schöner, warmer Sommerabend und kein Lüftchen regte sich, als man im Riesengebirge anlangte. Der Himmel war sternenklar; schwarz und schweigend standen die Fichtenwälder, um die Gebüsche schwirrten unzählige Insekten, leise rauschte ein Bächlein zu Tal. Die Damen im Wagen sahen und hörten aber von diesen Herrlichkeiten nichts, denn sie waren sanft eingeschlafen, jede in ihrer Ecke. Nur dem wachsamen Johann kam auf der hohen Warte des Kutschbockes kein Schlaf in die Augen, denn die Geschichten vom Rübezahl kamen ihm in den Sinn, und zwar die gruseligen: wie er Reisende geneckt, Fuhrleute geplagt habe, wie er jenen armen Schäfer, dessen Herde aus Versehen seinen Garten betreten, durch einen fürchterlichen Steinhagel herausgejagt habe, wobei der Mann mit seinem Vieh jammervoll zugrunde gegangen sei. Ach, wie sehnte er sich nach dem sicheren Breslau zurück, wohin sich nicht leicht ein Gespenst wagte! Immerzu schaute er ängstlich nach allen Seiten sich um, und wenn er etwas erblickte, das ihm bedenklich schien und das er nicht genau erkennen konnte im Zwielicht der Nacht, dann lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, und die Haare standen ihm zu Berge.

Zuweilen ließ er seine Besorgnisse den Kutscher merken, den er fragte, ob es nicht ein gewagtes Unternehmen sei, bei Nacht und Nebel über dieses verrufene Gebirge zu fahren, wo es ihm gar nicht geheuer vorkomme. Der brummte, dass ihm auf seinen mancherlei Reisen durch dieses Land noch nie etwas Unnatürliches passiert sei und dass er sich ganz und gar nicht fürchte.

Nach einiger Zeit hielt der Postkutscher aber doch die Pferde an, murmelte etwas zwischen den Zähnen und fuhr dann weiter, hielt nochmals an und wechselte so mehrmals. Johann, der aus Angst die Augen geschlossen hatte, schloss aus diesem seltsamen Verhalten des Kutschers nichts Gutes, blickte verzagt auf und sah in nächster Nähe eine pechrabenschwarze Gestalt von übermenschlicher Größe, die langsam auf den Wagen zukam. Die Gestalt trug einen langen Mantel und einen spanischen Halskragen, aber – und das war das Bedenkliche dabei – keinen Kopf. Hielt der Wagen, so stand auch der Schwarzmantel, ließ der Kutscher die Pferde anziehen, so kam er näher. Es war ein unheimliches Spiel.

»Siehst du was?«, fragte Johann den Nachbar mit hörbarem Zähneklappern.

»Freilich sehe ich was«, antwortete dieser, gleichfalls sehr verschüchtert, »aber schweig nur, damit wir’s nicht stören.«

Dem verzagten Diener grauste es bei dieser Auskunft, er suchte Schutz bei seiner Herrschaft, klopfte an das Glasfenster der Tür und weckte die Damen auf. Die erwachende Gräfin, unwillig, dass sie aus dem festesten Schlafe so unliebsam gestört wurde, fragte: »Was gibt’s?«

»Ihre Gnaden, schauen Sie mal aus, da kommt ein Mann ohne Kopf.«

»Das wäre nichts Neues«, antwortete sie ärgerlich, hüllte sich aber doch ein wenig tiefer in ihren Mantel.

Die Töchter, die gleichfalls munter geworden waren, fanden die Rede der Mutter gar nicht so spaßig, sie rückten ängstlich zusammen und flüsterten bebende: »Das ist Rübezahl, der Berggeist, der bringt Unglück.«

»Schämt euch«, sagte die Gräfin, »an solche Hirngespinste zu glauben! Es gibt keinen Berggeist, und es hat nie einen gegeben. Im Halbdunkel sehen einbildungskranke Menschen in jedem Zaunpfahl einen Schrat, in jedem Frosch einen Kielkropf, in jedem Häher ein Holzweiblein, in jeder Fledermaus einen Drachen. Bald ist es der Feuermann, der Unheil anrichtet, bald der wilde Jäger, ein Werwolf oder ein Kobold. Man lasse dem Volk seinen Glauben, aber Leute von Stand müssen über diese läppischen Kindereien erhaben sein.«

Die Gräfin würde ihr Lieblingsthema noch geraume Zeit ausgesponnen haben, wenn der Schwarzmantel bei dem fahlen Licht der aufgehenden Mondsichel nicht plötzlich vor dem Wagen aufgetaucht wäre. Da war nun deutlich wahrzunehmen, dass Johann sich geirrt hatte. Der unheimliche Wanderer hatte allerdings einen Kopf, nur trug er ihn nicht wie üblich zwischen den Schultern, sondern unter dem Arm. Dieses Schreckbild rief bleiches Entsetzen im Wagen hervor. Die jungen Damen ließen mit zitternden Händen den seidenen Vorhang des Fensters herunter, um das Grauenvolle nicht sehen zu müssen. Die Zofe stieß einen Schreckensruf aus, und die Gräfin, die ihre eben geäußerten Ansichten im Stillen widerrief, schwieg beklommen.

Johann, auf den es der Schwarzmantel zuerst abgesehen zu haben schien, rief in seiner Not: »Alle guten Geister …!« Doch ehe er ausgeredet hatte, schleuderte ihm das Ungetüm den abgehauenen Kopf gegen die Stirn, dass er vom Wagen stürzte und liegen blieb. Der Postillon wollte auf die Pferde einhauen, um sich und den Wagen durch die Flucht zu retten, da traf ihn ein Schlag mit einem Knüppel, sodass er gleichfalls herabstürzte.

»Nimm das vom Rübezahl, dem Bannwart des Gebirges!«, rief das Gespenst mit einer tiefen Grabesstimme. »Ich will dich lehren, mir in das Gehege zu fahren! Verfallen ist mir Wagen, Geschirr und Ladung.«

Hierauf schwang sich das Gespenst auf den Bock, ergriff die Zügel und Peitsche, trieb die Pferde an und fuhr in vollem Galopp davon, sodass im Schnauben der Rosse und Rasseln der Räder das Angstgeschrei der Damen unterging.

Auf einmal vermehrte sich die Gesellschaft um eine Person. Ein Reiter tauchte auf, ritt erst neben dem Wagen her und dann diesem voraus.

Dabei schien er gar nicht zu bemerken, dass dem Schwarzmantel der Kopf fehlte.

Dem gespenstigen Kutscher war augenscheinlich an dieser Begleitung gar nichts gelegen. Er fuhr einen anderen Weg, aber der Reiter tat ein Gleiches. Er wollte zurückbleiben, aber jener hielt mit ihm gleichen Schritt. Er peitschte die Pferde wie toll, um ihn zu überholen, aber der Unbekannte blieb an seiner Seite. Dabei hatte der Schimmel, den er ritt, nur drei Beine, lief aber dennoch ganz schulgerecht. Lange konnte das nicht so weitergehen, denn die Damen, die hin und wieder verzagt hinter der Gardine hervorlugten, befiel neuer Schrecken.

Da drehte sich der Reiter, sodass er dicht neben den Schwarzmantel kam, und fragte ihn ganz gemütlich: »Landsmann ohne Kopf, wohin geht die Reise?«

»Wo wird’s hingehen«, antwortete jener trotzig, »wie Ihr seht, immer der Nase nach.«

»Gut«, sprach der Reiter, »dann will ich aber sehen, wo du deine Nase hast.«

Darauf griff der Reiter die Zügel, sodass die Pferde sofort standen, packte dann den Kutscher und warf ihn so kräftig zur Erde, dass ihm die Knochen krachten. Bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, dass der Schwarzmantel doch einen Kopf besaß, den er jetzt furchtsam unter dem spanischen Kragen hervor streckte, und dass er überhaupt kein Gespenst, sondern aus Fleisch und Bein zusammengesetzt war, wie andere Leute auch. Er war nichts weiter als ein gewöhnlicher Wegelagerer, der diesen Trick angewandt hatte, um den blöden Kutscher samt dem dummen Diener zu entfernen und dann im Trüben zu fischen. Der Mensch sah ein, dass sein Spiel verloren war, und dass er sich zweifellos in der Hand desjenigen befand, dessen Rolle er spielen wollte. Er ergab sich daher auf Gnade oder Ungnade und bat um sein bisschen Leben.

»Strenger Gebirgsherr, habt Erbarmen mit einem Unglücklichen, den das Schicksal hin und her geworfen hat. Die Menschen haben mich ausgestoßen, und jetzt habe ich es soweit gebracht, dass ich nicht einmal mehr wie ein richtiges Gespenst spuken darf.«

Diese nicht übel gesetzten Worte retteten den Burschen für diesmal, denn Rübezahl, der ihn im ersten Zorn zerreißen wollte, sparte ihn für das Gericht auf, das er über ihn zu halten beabsichtigte, denn er war neugierig, zu hören, wie der Spitzbube, der bei aller zur Schau getragenen Kopflosigkeit nicht dumm zu sein schien, sein Vagabundenleben entschuldigen würde. Daher sprang er von dem Schimmel herab, zog diesem erst das versteckt gewesene vierte Bein aus dem Leib und sagte dann zu dem Burschen: »Steig auf, du Taugenichts, und tue, was dir befohlen wird!«

Darauf trat er an den Schlag, um die Damen zu begrüßen. Aber drinnen war es so still wie in einer Totengruft. Der Schrecken hatte ihnen allen das Bewusstsein genommen. Der Reiter musste erst aus dem vorbeifließenden Bächlein einen Hut voll Wasser besorgen, auch ein Riechfläschchen zu Hilfe nehmen, um die Lebensgeister wieder wachzurufen.

Die Damen schlugen nun die Augen auf, und da sie einen wohlgestalteten, feinen Herrn erblickten, der sich um sie bemühte, so wurden sie froh und fühlten sich wieder sicher. Sie sahen bald, der Herr war ein Mann von Welt, ein Kavalier, der, sobald es angebracht war, sich als der Oberst von Riesenstein vorstellte.

»Ich bedauere unendlich, dass Sie in meinem Gerichtsbezirk von einem entlarvten Bösewicht angefallen worden sind, der ohne Zweifel die Absicht hatte, Sie zu berauben, nachdem er Ihre Diener zu entfernen wusste. Der Bursche ist durch mich unschädlich gemacht worden, und Sie sind in Sicherheit. Gestatten Sie, dass ich Sie zu meiner Wohnung geleite, die nicht fern von hier ist. Ich werde die Führung des Wagens übernehmen.«

Die Fahrt ging nun weiter. Der Oberst regierte die Pferde, und der Schimmel mit dem Verbrecher trabte gehorsam nebenher, sodass es dem Vagabunden nicht möglich war, zu entwischen. Er machte auch gar nicht den Versuch dazu. Mit Grausen sah er auf den gespenstigen Fuhrmann, dem entgegenkommende riesige Fledermäuse Nachrichten zuwisperten, und denen dieser mit unheimlichen Gesten Befehle erteilte.

Bald leuchtete in der Ferne ein Lichtlein, daraus wurden zwei und endlich vier. Viele Jäger kamen mit Windlichtern herbeigeeilt, die ihren Herrn, wie sie sagten, gesucht hatten und nun seine Befehle erbaten. Er sandte sogleich zwei zurück, um den Diener der Gräfin sowie den Postillon herbeizubringen.

Dann kam das Schloss des Herrn Obersten in Sicht. Der Wagen rumpelte durch das düstere Burgtor in einen geräumigen Vorhof hinein und hielt vor einem herrlichen Palast, der glänzend erleuchtet war.

Da half der Oberst den Damen beim Aussteigen und führte sie mit ritterlichem Anstand in die Prunkgemächer seines Hauses, in denen eine große Gesellschaft versammelt war. Die jungen Damen waren dabei etwas bedrückt, dass der Oberst ihnen keine Zeit gelassen hatte, vorher etwas Toilette zu machen.

Nach den ersten üblichen Höflichkeitsbezeigungen zerstreute sich die Gesellschaft wieder in verschiedene kleine Gruppen. Einige setzten sich zum Spiel nieder, andere unterhielten sich durch Gespräche. Das Abenteuer der Damen wurde vielfach besprochen. Man unterließ es nicht, die Damen zu bedauern, wünschte ihnen aber auch Glück dazu, dass durch das Eingreifen des Herrn Oberst die Sache einen so guten Ausgang genommen habe.

Bald darauf führte der aufmerksame Wirt einen Mann ein, der recht wie gerufen kam. Es war der Arzt, der nach dem Gesundheitszustand der gnädigen Frau und ihrer Töchter forschte, den Puls fühlte und einige Pulver und Tropfen verordnete, die die Wirkung der ausgestandenen Angst aufheben sollten.

Darauf wurde zur Tafel gebeten. Der Speisesaal sah wie der eines Königs aus. Die Schenktische waren bis unter die Decke mit Silberwerk aufgeputzt, es prangten da goldene und silberne Pokale und Kredenzschalen von getriebener Arbeit. Herrliche Musik tönte aus den Nebenzimmern und würzte den leckeren Schmaus, den edlen Wein.

Nachdem die Schüsseln abgetragen worden waren, kam der Nachtisch an die Reihe. Da erschienen ganze Berge und Felsen aus Zucker und Gefrorenem in schöner Färbung, ja, ein Küchenkünstler hatte in aller Geschwindigkeit das Abenteuer der Gräfin allerliebst in Marzipan nachgebildet.

Die Gräfin sah das alles mit stillem Staunen, fragte aber bei passender Gelegenheit ihren Nachbarn, anscheinend einen böhmischen Edelmann, ob ein besonderer Anlass zu diesem Aufwand vorhanden sei, und ob man vielleicht einen Ehrentag des Hausherrn feiere.

Der Angeredete antwortete, dass nichts Außerordentliches vorgehe, die ganze Veranstaltung sei durch das zufällige Zusammentreffen einiger guter Bekannter entstanden, und so etwas sei nichts Besonderes in diesem Hause.

Nun wunderte sich die Dame, dass sie bisher niemals von dem gastfreien und wohlhabenden Herrn von Riesenstein gehört hatte, und sie kannte doch die zweihundert Adelsgeschlechter Schlesiens sehr genau durch ihren langjährigen Verkehr. Sie wandte sich daher an den Wirt selbst, um von diesem über die wichtige Sache Aufklärung und Belehrung zu erhalten. Der aber wusste das Gespräch so geschickt zu lenken, dass sie ihren Zweck nicht erreichte.

Ein wohlgelaunter Domherr brachte die Tischunterhaltung bald auf Rübezahl, von dem er mehrere Geschichten zum Besten gab, die nicht allgemein bekannt waren, und nun sprach man über den Berggeist, dessen Dasein die einen bestätigten, die andern leugneten. Die Gräfin schlug sich auf die Seite der Letzteren.

»Mein eigenes Abenteuer«, sagte sie, »ist der beste Beweis dafür, dass es einen solchen Geist gar nicht gibt. Wenn dieses Gebirge sein Reich wäre, so hätte er doch nicht leiden dürfen, dass ein elender Wegelagerer in seinem Namen hier Unfug treibt. Es ist ihm aber nicht eingefallen, sich einzumischen, und ohne die großmütige Hilfe des Herrn Oberst von Riesenstein wäre ich in die größte Schwierigkeit gekommen. Mithin habe ich das unbestreitbare Recht, an solchen Geisterspuk nicht zu glauben.«

Der Hausherr hatte an diesem Gespräch bisher wenig teilgenommen, konnte aber jetzt mit einer Entgegnung doch nicht mehr zurückhalten.

»Gestatten Sie, gnädige Frau, dass ich gegen Ihre Ausführungen einige Einwände erhebe. Wie wäre es, wenn der von Ihnen verneinte Bergherr doch bei Ihrer Erlösung seine Hand im Spiel gehabt hätte? Wenn er zum Beispiel meine Gestalt angenommen hätte, um den Bösewicht zu entlarven? Was sagen Sie dazu, dass ich mich aus dieser Gesellschaft, weil ich doch Wirt bin, überhaupt nicht entfernt habe? Demnach wäre es doch wohl möglich, dass der Berggeist nicht das Unding ist, wofür Sie ihn halten.«

Diese Rede brachte die Gräfin ganz aus der Fassung, die jungen schönen Damen aber legten die Löffelchen aus der Hand und sahen dem Hausherrn prüfend ins Gesicht, um aus seinen Augen zu lesen, ob er im Scherz oder im Ernst rede, während die übrigen Tischgäste gar keine Verwunderung merken ließen.

Die nähere Erörterung dieser Frage unterblieb, weil der Diener der Gräfin sowie der Postillon als wiedergefunden und wohlbehalten gemeldet wurden. Der Letztere fand zu seiner Freude seine Pferde ganz und heil vor der vollen Krippe, und Johann, der in den Speisesaal eintreten durfte, war glücklich, seine Herrschaft wiederzusehen. Triumphierend trug er das Riesenhaupt des Schwarzmantels, durch das er wie von einer Bombe niedergeschmettert worden war. Es erwies sich als ein großer, ausgehöhlter Kürbis, der, mit Sand und Steinen ausgefüllt, auch mit einer Nase und Flachshaaren versehen war, sodass er, von Weitem gesehen, einem Riesenschädel ähnelte.

Nach aufgehobener Tafel trennte sich die Gesellschaft, da der Morgen bereits dämmerte. Die Damen fanden ein reizendes Schlafgemach mit seidenen Prunkbetten und schliefen allesamt darin so fest, dass keine von dem ausgestandenen Schrecken träumte.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Gräfin erwachte. Sie weckte die Zofe und ihre Töchter, denn sie wünschte so schnell wie möglich nach Karlsbad zu kommen, und wollte nicht länger in dem gastfreien Hause bleiben.

Der Hausherr nötigte sie zwar, wenigstens noch einen Tag zuzugeben, aber der Entschluss der alten Dame stand fest, und nach dem Frühstück schickte sie sich zur Abreise an. Die Damen dankten gerührt für die ritterliche Hilfe und die freundliche Aufnahme und versprachen, auf der Rückreise wieder vorzusprechen. Dann rollte der Wagen davon.

Rübezahl hatte den Damen eine Zeit lang das Geleit gegeben, kehrte aber jetzt zurück, um mit dem Schwarzmantel abzurechnen.

Der Bursche war in einem Keller eingesperrt worden und sah dem Gericht mit Angst und Bangen entgegen.

Die Gräfin war mit ihren Töchtern inzwischen wohlbehalten nach Karlsbad gekommen. Als sie abgestiegen war, ließ sie den Badearzt kommen, um ihn über ihren Gesundheitszustand und über die Kur zu befragen. Der Arzt kam, stellte sich als Doktor Springsfeld vor und fragte nach ihren Wünschen und Beschwerden.

»Seien Sie uns willkommen, lieber Doktor!«, riefen Mutter und Töchter. »Wir sind sehr erfreut, Sie hier wiederzusehen.«

»Aber«, sagte die Gräfin, »weshalb haben Sie uns verschwiegen, dass Sie der Badearzt sind, und wie haben Sie es nur angefangen, vor uns hier zu sein? Wir vermuteten Sie noch beim Herrn von Riesenstein.«

Der Arzt stutzte, sah die Damen zweifelnd an und erinnerte sich nicht, sie irgendwo gesehen zu haben.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, »aber ich habe meines Wissens bisher nicht die Ehre gehabt, Ihre Bekanntschaft zu machen, auch ist mir ein Herr von Riesenstein völlig unbekannt. Außerdem pflege ich mich während der Kurzeit aus Karlsbad nicht zu entfernen.«

Da er bei dieser Angabe blieb, so konnte sich die Gräfin das nicht anders erklären, als dass der bescheidene Mann für seine Dienste im Hause des Obersten keine Entlohnung annehmen wolle. Sie erwiderte daher lächelnd: »Ich verstehe Sie, lieber Doktor. Ihr Zartsinn geht aber zu weit, was mich indes nicht abhalten soll, mich als Ihre Schuldnerin zu bekennen und für Ihren Beistand dankbar zu sein.«

Sie nötigte ihm hierauf mit Gewalt eine goldene Tabaksdose auf, die er aber nur annahm, um die gute Kundin nicht unwillig zu machen. Im Übrigen sah er die Dose als Vorausbezahlung für die künftige Behandlung an. Er war der Meinung, dass die gräfliche Familie an einer fixen Idee leide, wenn es sich nicht um eine schrullige Laune handle, wie man solche in vornehmen Kreisen öfters antrifft.

Die Anwesenheit der neuen Gäste sprach sich bald herum, und man beeilte sich, die Bekanntschaft derselben im Kurhaus zu machen. Es war für die Gräfin und ihre Töchter ein überraschender Anblick, die ganze Gesellschaft hier anzutreffen, die sie bei dem Herrn von Riesenstein kennengelernt hatten. Da war der Herr Graf, der Herr Finanzrat, der Domherr, lauter bekannte Gesichter, nur der Oberst selbst fehlte. Mit aufrichtiger Freude, diese Herren und Damen hier anzutreffen, begrüßte die Gräfin die Gesellschaft, nannte die einzelnen bei ihren Namen und Titeln und knüpfte an die Gespräche an, die sie im Hause des Obersten mit ihnen geführt hatte.

Erstaunt sahen die Kurgäste sie an, wussten nicht, wovon die Rede war, kannten keinen Oberst von Riesenstein und waren sich alle darin einig, dass es bei der gräflichen Familie im Oberstübchen wohl nicht recht stimmen könne. Dabei blieb aber allen unergründlich, woher die Gräfin diese überraschend genaue Personenkenntnis habe.

Die Gräfin und ihre Töchter wunderten sich ihrerseits über das kalte und zurückhaltende Benehmen der Herrschaften. Bei dem Oberst waren sie die Freundlichkeit selbst gewesen, und hier kannten sie dieselben Leute gar nicht wieder. Die gnädige Frau fand das sehr rätselhaft. Als das Eis auch nach einigen Tagen nicht schmelzen wollte, entschloss sie sich, der Gesellschaft ihr Abenteuer mit dem Herrn von Riesenstein in allen Einzelheiten zu erzählen.

»Wunderbar!«, riefen die Zuhörer wie aus einem Munde und sahen bedeutungsvoll den Kurarzt an, der durch seine Mienen zu verstehen gab, dass es wohl das Beste sei, sie in ihrem Glauben zu lassen.

Die Gräfin gab es schließlich auf, gegen Windmühlen zu kämpfen, und erwähnte nichts mehr von der Sache, und die Kurgesellschaft fand, dass die Dame eine sehr vernünftige Frau sei, solange sie nicht auf das Riesengebirge und jene famose Abendgesellschaft zu sprechen komme.

Die Kur war zu Ende, das Leiden der Gräfin hatte sich außerordentlich gebessert, die Komtessen waren der Vergnügungen müde geworden, und das ganze Bestreben der Familie war auf die Rückkehr nach Breslau gerichtet. Die Gräfin verabschiedete sich und reiste ab. Sie wollte denselben Weg über das Gebirge nehmen und bei dem Obersten vorsprechen, der ihr über die frostige Zurückhaltung der Karlsbader Gesellschaft Auskunft geben sollte. Er allein war der Mann dazu.

Die Geschichte von dem Überfall auf der Herfahrt war indes auch schon in Karlsbad ruchbar geworden und die Kutscher der Reisewagen waren nicht recht willig, die gräfliche Familie und deren Zofe über das Gebirge zu fahren. Es bedurfte viel guten Zuredens und einer erklecklichen Geldsumme, bis sich ein vierschrötiger Geselle fand, der die Reise wagen wollte.

Die Fahrt ging auch ohne Unfall vonstatten und die Gräfin kam mit ihrer Gesellschaft ungehindert in jener Gegend an, wo sie jenes gruselige Erlebnis hatten.

Von goldener Sonne freundlich beschienen lag das Dorf, bis zu dem der Oberst sie damals geleitete. Sie hielten dort, um sich nach ihrem Retter zu erkundigen.

Zu ihrem außerordentlichen Befremden kannte aber niemand auf dem Gebirge einen Oberst von Riesenstein, kein Mensch hatte jemals von einem herrschaftlichen Hause auf der Höhe vernommen. Auch hier sah man die Damen zweifelnd an und schüttelte die Köpfe.

Nun befahl die Gräfin auf die Höhe zu fahren, das Schloss des Obersten sei doch keine Stecknadel, die über Nacht verloren gegangen sein könne. Man kam an die Stelle, wo der Palast gestanden haben musste, aber da war nichts zu sehen als Felsen, Bäume und Sträucher, und sonst herrschte die Öde und tiefe Stille des Gebirges.

Da begriff die Familie, dass sie in den Händen Rübezahls gewesen war und dass sie der Geist bei aller Ritterlichkeit und Großmut mit der Badegesellschaft gefoppt hatte. Sie sahen endlich ein, dass es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen lässt.

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