Das Schatzgewölbe auf dem Hohen Steine

  Joh. Böhm in der Erzgebirgs-Zeitung, 2. Jahrg., S. 130 und 132

Auf dem Hohen Steine zwischen Graslitz und Markneukirchen ist eine Schatzkammer, deren Eingang sich in der Nähe des sogenannten Franzosensteins, eines prismatisch zubehauenen Granitblocks mit der Jahreszahl 1808, befindet. Die Pforten zu der Schatzkammer sollen sich alljährlich am Karfreitage, während in der Kirche die Passion gesungen wird, öffnen.

Ein armes Weib aus dem naheliegenden Orte Stein nahm ihr einjähriges Kind, welches sie niemandem der Obhut anvertrauen konnte, und begab sich an einem Karfreitage mit demselben in den Wald am Hohen Stein, um „Holz zu klauben.“ Schon hatte sie davon eine ziemliche Menge beisammen, als sie plötzlich in einem Felsen eine weite Öffnung bemerkte, welche von ihr früher niemals gesehen worden war. Verwundert darüber nahm sie ihr Kind, welches unterdessen auf weichem Moose gesessen, auf den Arm und fasste den Entschluss, das seltsame Tor näher zu betrachten. Hinzugetreten und in die gähnende Höhlung hineinblickend, sah sie zu ihrem Erstaunen in derselben Haufen rotwangige Äpfel, eine große Menge gleißendes Geld und funkelnde Edelsteine, ferner auf einem Tische ein Bund altertümlicher Schlüssel. Nachdem das Weib schnell seinen Korb herbeigeholt und das Kind zu den Äpfeln gesetzt hatte, mit dem Bedeuten, es möge davon essen, fing sie an, von den reichen Schätzen in ihren Korb zu raffen, bis dieser nichts mehr tragen konnte. Im Begriffe hinauszugehen, um ihre schwere Last draußen abzusetzen und hierauf ihr Kind zu holen, hörte sie eine Stimme rufen: „Vergiss das Beste nicht!“ Doch sie konnte den Sinn dieser Worte nicht deuten und begab sich ins Freie. Kaum war dieses geschehen, so schloss sich hinter ihr der Felsen geräuschlos und so sehr auch das Weib jammerte und weinte, um ihr verlornes Kind bat und flehte, der Eingang war und blieb verschwunden.

Todmüde und tiefbetrübt wankte sie endlich ihrer armseligen Hütte zu, laut und heftig ihre Habsucht und Geldgier verwünschend. Es verging ein Jahr und die hartgeprüfte Mutter lenkte, das nicht angetastete Geld im Korbe tragend, am Karfreitage zu derselben Stunde wie vor zwölf Monaten ihre Schritte dem hohen Steine zu. Und siehe da! der Eingang zur Schatzkammer stand offen, und als sie klopfenden Herzens und froher Hoffnung näher getreten war, sah sie zu ihrer unaussprechlichen Freude ihr todgeglaubtes Kind frisch und gesund, sowie kräftig herangewachsen auf derselben Stelle, auf welche sie es im Vorjahre gesetzt hatte. Schnell schüttete sie das Geld wieder an seinen Ort, nahm das Kind und machte sich eilig davon, obwohl sie neuerdings rufen hörte: „Vergiss das Beste nicht!“ Auf dem Heimwege fragte sie ihr Kind, wer es gepflegt habe. „Eine weiße, freundliche Frau,“ antwortete dieses, „gab mir zu essen und zu trinken, kleidete und bewachte mich.“ - Hätte das Weib den Schlüsselbund mitgenommen, so würde sich ihr der Felsen jederzeit geöffnet und seine Schätze dargeboten haben. Das war das Beste, welches die Stimme meinte.

Die genannte weiße Frau ließ sich früher, meist zur Mittagszeit, häufig in der Nähe des Hohen Steines sehen, den Bund mit altertümlichen Schlüsseln in der Rechten tragend. Sie tat niemandem ein Leid, im Gegenteil, manchen würde sie reich gemacht haben, wenn er nicht unwissend und leichtsinnig die dargebotenen Geschenke von sich gewiesen hätte.

Ein Waltersgrüner Knecht machte sich in später Nachtstunde auf den Weg, um einer dringenden Angelegenheit halber nach Stein zu gelangen. Bei der untern Mühle verließ er den Fahrweg und schlug einen schmalen Fußpfad ein, der am Abhange des Hohen Steines dahinführt, und auf dem er, wie er glaubte, in kürzerer Zeit an den Ort seiner Bestimmung gelangen konnte. Allein die große Dunkelheit der Nacht und das arge Wetter waren Ursache, dass er vom rechten Steige abkam und lange Zeit in der Irre herumging. Endlich sah er zu seiner Freude ein Licht schimmern, und er verdoppelte seine Schritte in der Meinung, zu einem gastlichen Hause gelangen zu können. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er statt der Flur eines solchen einen breiten Gang betrat, an dessen Ende von der Decke eine strahlende Lampe herabhing, die ungeheuere Schätze von Gold und Edelsteinen aller Art beleuchtete. Nachdem der Knecht eine starke Anwandlung von Furcht bekämpft hatte, da er außer den köstlichen Reichtümern noch eine weiße Frau bemerkte, welche jene zu hüten schien, trat er näher und betrachtete mit lebhaftem Verlangen das gleißende Gold und die funkelnden Juwelen. Die weiße Frau schien seine Gedanken zu erraten, denn sie erhob ihren rechten schneeigen Arm, deutete mit dem Zeigefinger auf die Schätze und sprach: „Nimm davon, soviel dein Herz begehrt, aber vergiss das Beste nicht!“ Das letztere glaubte er unter den Edelsteinen zu finden und raffte mit gierigen Händen in seine Taschen, soviel diese fassen konnten. Noch zweimal trafen jene Worte sein Ohr, allein er achtete nicht darauf und verließ frohen Sinnes über den gewonnenen Reichtum den hohen und breiten Gang. Kaum war er im Freien, als sich der Eingang zu demselben donnernd schloss und eine dumpfe Stimme sprach: „Tor, das Beste war der Schlüssel, den du unbeachtet liegen ließest, und der Dir jederzeit den Eingang zu meinen Schätzen geöffnet hätte.“ Von der Steiner Pfarrkirche aber trug die Luft die zwölf Schläge der Mitternachtsstunde an sein Ohr, und da sich die dunkeln Wolken zerteilt hatten und die Sterne hernieder lugten auf die stille Erde, bemerkte der erstaunte Knecht, dass er sich am Hohen Steine befand.

Manche alte Leute nennen die weiße Jungfrau mit dem Schlüsselbunde das „Schwedenweibl“ und erzählen, dass dieses die verwünschte Tochter eines gefürchteten schwedischen Feldherrn sei, welcher lange Zeit auf dem hohen Steine hauste und von hier aus die ganze umliegende Gegend arg heimsuchte.

Die Schweden stehen überhaupt bei den Bewohnern der um den Hohen Stein liegenden Dörfer im schlimmen Andenken. Wenn der Vater in den Feierstunden sein Büblein auf den Knien schaukelt, spricht er dabei:

„Reiter, sa, sa!
Der Schwed´ ist gekommen,
Hat alles mitg´nommen,
Hat d´ Fenster ´neing´schlag´n,
Hat ´s Blei davon trag´n,
Hat Kugeln d´raus ´gossen,
Hat ´s Bubel erschossen.“

Quelle: www.Erzgebirge-Museum.de