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Das fliegende Haus

Im Gebirge stand eine einsame Baude, in der eine brave Frau mit ihrer hübschen Tochter wohnte. Ihr Mann, ein fleißiger Weber, war vor Jahren schon gestorben, und sie schlug sich durch, so gut sie konnte. Da kam eines Tages ein junger Bauer zu Besuch. Der erzählte der Frau, dass er jetzt nach dem Tod seiner Eltern alleiniger Besitzer des Gütchens sei. Er habe zwar noch eine Schuldsumme darauf stehen, hoffe sie aber bald abzutragen. Im Stall ständen vier Kühe, und damit bewirtschaftete er dreißig Morgen Land und Wiesen. Dann zeigte er ihr einen Beutel mit schönen Silbertalern und sagte, das wären seine Ersparnisse, die er zu nötigen Anschaffungen in der Wirtschaft und auch als Notpfennig verwenden wolle, wenn es sein müsste. Es fehle ihm nichts weiter als eine Frau, und da möchte er gern die Sophie haben, die ihn von früher her noch kenne, als beide Väter noch gelebt hätten.

Da die Mutter nun nichts gegen den als tüchtig bekannten Freier einzuwenden hatte und auch Sophie nicht dagegen war, so wurde bald Hochzeit gefeiert, und die junge Frau wohnte nun vier Stunden von ihrer Mutter entfernt bei ihrem Mann.

Der Bauer hätte wohl eine reiche Frau bekommen können, aber er war mit Sophie sehr zufrieden und bereute es gar nicht, das arme Webermädchen genommen zu haben, denn sie war so brav, dass keine sie an Fleiß, Sparsamkeit und Ordnungsliebe übertraf. Nur eins gefiel ihm nicht an ihr, dass sie immer nach ihrer Mutter Verlangen trug und es beklagte, dass sie ihr nicht näher wohne. An einigen Sonntagen erlaubte er, dass sie hinüberging und der Mutter Eier, ein Stückchen Butter und Kräuterkäse mitbrachte.

Dann aber sagte er barsch: »Höre, Sophie, die Lauferei zur Alten auf dem Berg muss aufhören! Wenn eine Frau so oft aus der Wirtschaft geht, dann geht alles drunter und drüber. Ich hab’ dich geheiratet und nicht deine Mutter.«

»Sie ist alt und gebrechlich«, meinte Sophie, »wenn ihr nun etwas zustieße! Wie wäre es, wenn wir sie mit ins Haus nähmen? Oben das Stübchen …«

»Fällt mir nicht ein! Wo denkst du hin? Jung und alt verträgt sich nicht, das ist eine bekannte Geschichte. Mag sie sich hier in der Nachbarschaft einmieten, das ist mir recht, dann kannst sie jeden Tag sehen. Aber wohnen soll sie hier nicht, sonst gibt’s ein Unwetter.«

»Sie hat nun oben das alte Haus. Dort ist ihr jedes Plätzchen viel wert, wo der Vater gesessen und wo er sein Sterbelager gehabt hat.«

»Was kümmert’s mich? Mag sie sehen, wo sie bleibt. Meinetwegen kann sie die alte Bude auf den Buckel nehmen und hierher setzen. Ich habe nichts dagegen. Nun aber genug davon.«

Solch harte Reden bekümmerten die junge Frau sehr, und sie weinte manch heiße Träne über das raue Wesen ihres sonst so rechtschaffenen Mannes. Lange Zeit erwähnte sie nichts mehr von der Mutter.

Aber eines Tages sagte sie: »Mann, ich halte es nicht mehr aus, ich muss einmal wieder nach der Mutter sehen. Mir ahnt, dass es ihr nicht gut geht. Sie hat zudem morgen ihren Namenstag, da muss ich ihr doch ein kleines Angebinde mitnehmen.«

»Gut«, erwiderte er, »das ist aber das letzte Mal. Gehst du dann noch einmal hinüber, so bleib nur gleich drüben, denn dann muss ich mir eine andere nehmen, die die Wirtschaft mehr achtet.«

Damit schlug er die Tür zu und machte sich draußen etwas zu schaffen.

Sophie empfand diese Worte wie Dolchstiche, war tiefbetrübt darüber und machte sich mit Tränen auf den Weg. Der war ihr noch nie so lang und mühsam vorgekommen. Öfters musste sie sich ausruhen, um sich ordentlich auszuweinen.

Das sah Rübezahl mit scharfem Adlerblick, und sogleich erregte das Leid der jungen Frau seine Aufmerksamkeit. Er nahm daher die Gestalt eines vierschrötigen Holzhauers an, der eine großmächtige Karre Reisig vor sich herschob, hielt damit an und fragte die junge Frau aus. Und weil diese sonst niemand besaß, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und doch das Bedürfnis empfand, sich mitzuteilen, so erfuhr er bald alles und jedes.

»Das wird ein schwer Stück Arbeit für die alte Frau werden«, meinte der Geist, »wenn sie ihr Häuslein auf den Rücken nehmen und wegtragen soll.«

Darauf fragte er, wie weit es noch bis zur Baude sei, und als er erfuhr, dass die junge Frau gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt habe, lud er sie ein, sich auf seine Karre zu setzen, es käme ihm nicht darauf an, sie zu fahren, und er hätte zufällig denselben Weg. Die Frau wollte erst nicht, aber er machte ihr einen Sitz zurecht, hob sie hinein und fuhr los, daß Steine und Funken flogen. Bald war Sophie oben, stieg ab und dankte dem Mann. Dann ging sie in das Haus hinein, Rübezahl aber legte sich in das Fenster wie ein guter Bekannter und nickte freundlich in die Stube, als ob er ein Recht dazu hätte oder mit zur Familie gehörte.

Der alten Frau ging es sehr schlecht. Sie war lange Zeit schon bettlägerig. Niemand hatte sich um sie gekümmert, und so war sie nicht imstande gewesen, sich ein Süpplein zu bereiten. Sie war ganz von Kräften und glaubte sterben zu müssen. Nun freute sie sich, die Tochter noch einmal zu sehen.

Nach der ersten schmerzlichen Begrüßung schaffte Sophie der Mutter allerhand Erleichterungen, stärkte sie auch mit etwas Nahrung. Indes quälte sie sich dabei immer mit dem Gedanken, dass es nun das letzte Mal sein werde, dass sie der Mutter helfen könne. Und dann auf einmal kam es mit aller Gewalt über die junge Frau, sie umarmte die Mutter und weinte dabei wie ein Kind.

»Mir scheint«, rief Rübezahl zum Fenster hinein, »dass es euch beiden nicht möglich ist, die Hütte wegzutragen, damit das alles ein gutes Ende nimmt. Ich sehe wohl, dass ich die Sache in die Hand nehmen muss, wenn etwas draus werden soll. Da müsste ich freilich einen Strick haben.«

Der Strick fand sich bald. Rübezahl warf ihn über das Dach, einen zweiten hinterher, machte sich die Tragbänder zurecht, und plötzlich merkten die weinenden Frauen, dass das Haus vom Boden losgerissen wurde, sich erhob und dann in der Luft fortbewegte. Aber dabei rührte sich keine Schindel, knarrte kein Balken, und nicht ein Körnchen Kalk fiel von der Decke. Sophie sah erschrocken aus dem Fenster, da flogen Bäume, Felsen, Berge vorbei, und in sausender Geschwindigkeit näherte sich das fliegende Gebäude dem Hof ihres Mannes.

Dort hatte die Fahrt ein Ende, und die Baude stand dem Wohnhaus des Bauern schräg gegenüber, festgegründet und verankert, als ob sie nie einen anderen Platz gehabt hätte.

Der Bauer sah das wunderliche Spielwerk mit offenem Mund an. Aber da stand auch schon Rübezahl vor ihm mit zusammengerollten Tragbändern, zog seinen Hut und sagte mit einfältiger Stimme: »Seid so gut und gebt mir einen Taler Bringerlohn, ich habe Eure Frau und die Mutter samt dem Häuschen hergeschleppt.«

Der verblüffte Bauer ging nun in das Haus, um einen Taler zu holen. Als er aber zurückkam, fand er wohl Sophie und ihre Mutter, aber nicht den merkwürdigen Holzknecht. Der war spurlos verschwunden. Da schüttelte er sich vor Schrecken und wurde seitdem freundlich der Mutter gegenüber.

Die erholte sich schnell unter der Pflege ihrer Tochter und machte sich bald im Haus des Bauern nützlich und unentbehrlich.

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