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Der falsche Schwur

  Leonhard Lyser, Abendländ. Tausend und Eine Nacht, Bd. 9. S. 18. Grässe S. 531.

In der Oberlausitz lebte vor 100 Jahren ein Mann, den man im Verdacht verschiedener feiner Betrügereien hatte. Besonders, so sagte man von ihm, sollten seine Betrügereien im falschen Messen der Garten- und Feldfrüchte bestehen, mit denen er Handel trieb. Auch seine anfänglich ehrliche Frau verleitete er zum Betruge und sie ward nach und nach immer geübter in dergleichen Künsten.

Einst wurde es entdeckt, daß sie das Gespinnst, mit dem sie handelte, zu kurzweifte. Personen, die welches von ihr gekauft hatten, wollten es ihr wieder zurückgeben. Sie leugnete, daß dieses kurz geweifte Gespinnst von ihr sei, und endlich kam es zu einem Streite, den die Gerichte enden sollten. Der Frau ward der körperliche Eid zuerkannt und sie schwur mit den Worten: „Gott strafe mich und meine Nachkommen bis ins dritte und vierte Glied, wenn ich falsch geweift habe und das kurze Gespinnst von mir ist.“ Sie ward freigesprochen.

Nach Jahresfrist klagte sie über heftige Schmerzen in der rechten Hand, welche endlich von der Gicht ganz krumm gezogen wurde. Sie gebar einen Sohn und eine Tochter; beiden fehlte an jedem Finger ihrer Hände das letzte Glied. Jetzt gedachte man in der ganzen Gegend ihres Eides und die Frau ward allgemein verachtet. Ihre Kinder verheiratheten sich, bekamen Kinder, und wieder fehlte diesen an den Fingern ihrer Hände das letzte Glied. Die Großmutter starb in Reue und Leid, ihre Kinder erlebten noch Enkel, welchen ebenfalls an jedem Finger das letzte Glied fehlte. Dem Urenkel dieser betrügerischen Frau, der über seine übelgestalteten und zu Wenig fähigen Hände sehr niedergeschlagen war, ward endlich ein Sohn mit ganz wohlgebildeten Händen geboren.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862