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Die Wunderblume auf dem Löbauer Berge I

  Nach Gräve S. 41

Auf der Mittagsseite des Löbauer Berges führt ein Theil des Waldes den Namen Kräutergarten, denn es ist da ein großer Reichthum von heilsamen Kräutern. Dort blüht in der Johannisnacht die Wunderblume. Lilienähnlich ist ihre Gestalt, purpur und golden ihre Blüthe und ihre langen Blätter schimmern von silbernen Rändern. Ihrem Wohlgeruche gleicht nichts auf der Welt.

Alle Leute wissen von ihrem Dasein, aber wenige nur haben sie gesehen. Nicht jeder darf sie brechen, aber wer es dürfte, der ist von Gott gesegnet. Ein Löbauer Jäger (Kajetan Schreier war sein Name und er war des Städtleins Rathsförster) weilte einst zur Nachtzeit auf jenem Berge. Er hatte einen Rehbock geschossen und fing an ihn auszuweiden. Da drang plötzlich ein wunderbarer Wohlgeruch vom Winde getragen zu seinen Sinnen. Er ging einige Schritte dem Wohlgeruche nach, aber sonderbar – er, der Kenner jedes Baumes und Strauches auf dem Berge, ging irre und drehte sich in einem Kreise. Wunderbare Töne drangen in sein Ohr und, von himmlischem Glanze umleuchtet, schimmerte ihm die Wunderblume entgegen. Geblendet und verwirrt starrte er das Wunder an. Da schlug die Thurmuhr des Städtchens Mitternacht. Ein Blitz, ein Krach und die Erscheinung war verschwunden und der Wald wieder finster und still wie zuvor.

Er eilte an den Ort, wo er das Wunder gesehen. Keine Spur von der Blume. Aber ein Zettel lag an der Stelle, wo sie geblüht, und auf schwarzem Pergament mit goldener Schrift standen die Worte:

Mortalis, immaculati cordis, qui tempore floris mei fortuito huc venit casu, carpere me potest, et uti bonis quae praebeo; sin minus, fugiat longe.

Dies geschah im Jahre 1570.

Eine alte fast unleserliche Handschrift, die noch Anfangs des vorigen Jahrhunderts mit dem Pergamentzettel im Original, nebst einem gerichtlich aufgenommenen Protokolle über die Aussage des Försters auf der Löbauer Rathsbibliothek vorgezeigt wurde, enthielt Folgendes: „Blühet in dem Gärtlein uf dem Löbawer Berge, allein aller 100 Jahr, gar in der Mitternachtsstund von St. Johannis Enthäubtung gar ein wunderseltsam Blühmlein, von anmuthiger Gestalt undt lieblichem Gedüft, welches der, so reines Herzens ist, leicht aus der Erd reißen kann undt dadurch zu hoher Ehr undt vieley Geld gelangt, sintemalen die stark, groß Wurz, sowie das Blühmlein selbst von purem Gold, Silber undt köstlichem Gesteine ist. Wer sich aberst nit vest und sicher weiß, der berühr es ja nit; sonst verleurt er sin Lewen. Wofür Gott behut.“

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862