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Der verliebte Hengst

  Mündlich.

Am Thurme der Klosterkirche zu Sorau sieht man in Stein ausgehauen das Gesicht eines jungen Mädchens und daneben einen Pferdekopf, als Denkmäler einer wunderbaren Begebenheit, welche sich auf dem Klosterhofe zugetragen. Dort ist ein Brunnen, zu welchem die Stadtmädchen häufig kommen, um Wasser zu schöpfen. Als dies eben eine sehr schöne Jungfrau that, erblickte sie ein junger Hengst, welcher in dem nahe liegenden Stalle angebunden stand, riß sich los und sprang auf sie zu. Die Jungfrau lief um den Brunnen herum, zwei-, dreimal, der Hengst lief ihr immer nach. Da sie aber sich so nicht vor ihm retten konnte, eilte sie flüchtigen Fußes dem Thurme zu und die Wendeltreppe hinauf. Doch auch hierhin kam ihr der Hengst nach, und keinen Ausweg erblickend stürzte sich die Jungfrau, übermannt von Schreck und Grausen, hoch oben aus dem Fenster auf den Hof hinab; ihr nach der Hengst. Zerschmettert lagen beide todt neben einander.

Eine andere Sage fügt hinzu: Das Mädchen liebte den Knecht, der das Pferd zu hüten hatte. Der aber wollte nichts von ihr wissen. Da schenkte sie ihm mit einem Butterbrode einen sogenannten Liebesbissen, den die kluge Frau zurecht gemacht hatte. Der Kutscher aber ahnt nichts Gutes und giebt das Brod dem Pferde. Daher des Gaules Verliebtheit.

Anmerkungen:

1. Eine von den vielen Sagen, die sich das Volk ausdenkt, um die Pferdeköpfe an Gebäuden zu erklären, deren ursprüngliche Heilsbedeutung verloren gegangen ist.

2. Pferde haben erotische Bedeutung. Wie hier ein Pferd empfänglich ist für Liebeszauber, so ist es im alten Aberglauben selbst ein Stück Fleisch von der Stirn eines Pferdes, Hippomanes genannt, welches man besonders präpariren und sodann von der Person berühren lassen muß, deren Liebe mau sich verschaffen will. (Scheible, die gute alte Zeit, Stuttg. 1847 S. 194.)

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862