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Das Fräulein vom Zangenberge

  Breslauer Handschrift No. 18. u. 19. Sammlung von Schön No. 31. Msc.

I.

Zwischen Schwerta und Marklissa steht ein mit Tannen bewachsener Berg. Auf seinem Gipfel stand vor Zeiten ein festes Schloß, das von Raubrittern bewohnt war, die sich durch Feuerzeichen mit denen der Landeskrone in Verbindung setzten. Dort erscheint von Zeit zu Zeit ein Fräulein, welches mit rührender Stimme den vorübergehenden Wanderer um Erlösung aus ihrem verwünschten Zustande anfleht. Der Erlösende kann nur ein reiner Knabe oder Jüngling sein. An eine junge Fichte gelehnt steht sie unbeweglich. Ihr Antlitz ist sehr schön, aber todtenblaß, und schwarze Locken wallen auf ihre Schultern herab. Ihre Kleidung zeigt immer ihre Gemüthsstimmung an. Trägt sie ein weißes Gewand, so ist sie sehr gütig und voller Frieden, trägt sie aber ein schwarzes, so ist sie wild aufgeregt und zornig. Stets aber hat sie ein großes Schlüsselbund am Gürtel. Auch am Bache, der am Berge vorüberrauscht, hat man sie gesehen, wie sie sorgsam weiße Linnen wäscht und in der Sonne trocknet. Dann haben goldene und silberne Gefäße am Bergabhange gestanden. Mancher ist vorübergegangen und hat ihren Bitten um Erlösung zaghaft sein Ohr verschlossen; aber Mancher hat wenigstens ihre Rettung versucht, wenn auch immer vergeblich.

Ein Jüngling, den ihre Bitten rührten, folgte ihr einst bis zu dem Berge, von dem sie herabgestiegen war, um ihn um Erlösung anzusprechen. Da sieht er aber Bären und Wölfe wild umherrennen und ihm den weiteren Weg mit feurigem Rachen verwehren. Ein Anderer, besonnener als jener, betet ein Vaterunser, worauf alle Truggestalten verschwinden. Da öffnet sich der Berg. Das Fräulein schreitet voran und sie gelangen in eine Kapelle.

Das Fräulein geht an den Altar, nimmt zwei Schwerter von ihm herunter, giebt ihm das eine, während sie das andere in der Hand behält und befiehlt dem Jünglinge, ihr das Haupt abzuschlagen. Da er das zu thun verweigert, erbebt der Berg, er fühlt sich fortgezogen und findet sich wieder an dem Orte, wo er das Fräulein zuerst gesehen.

II.

Eine andere Sage erzählt, die Jungfrau sei die Tochter des letzten Ritters, der einst sammt dem Schlosse und seinen Bewohnern in den Berg versunken sei. Nur alle Jahrhunderte einmal erscheine sie um die Zeit der Weihnachten, um einen Vorübergehenden um die Erlösung der Versunkenen anzuflehen, wobei sie ihm einen Theil des im Berge vergrabenen Schatzes verspricht. Vor hundert Jahren ist ihr ein Schäfer gefolgt und niemals wieder gekehrt.

III.

Am ersten Weihnachtsfeiertage 1834 ging gegen Morgen ein Bäckerlehrling aus Marklissa des Weges, um seine Eltern in dem nahe gelegenen Städtchen Wigandsthal zu besuchen. Am Zangenberge angekommen sieht er plötzlich in einiger Entfernung eine Frau in einem schwarzseidenen, mit Schmelz gestickten Gewande von alterthümlichem Schnitt und mit einer langen Schleppe. Ihr Haupt bedeckte eine schwarze Haube mit einem in kleine Falten gelegten Streifen, von der ein langer Crepschleier herabwallte. Ihr Antlitz war fahl und blaßgelb. Der Knabe betrachtet diese Erscheinung mit neugierigen Blicken, doch als er bemerkt, daß sie ihm winkt, geht er erschrocken und schnell vorwärts. Siehe, da steht auf einmal die Frau, die doch vier hundert Schritt von ihm entfernt war, dicht vor ihm. Wieder winkt sie ihm und ruft ihm zu: Folge mir. Der Knabe sagte hierauf ängstlich: „Sie mögen ein gutes Frauenzimmer sein, doch ich bin auch ein guter Junge“, und nun lief er athemlos ohne sich umzusehen, bis er das nächste Dorf erreichte. Zu Hause angekommen erzählte er seinen Eltern, was er gesehen, und weder Bitten noch Vorstellungen vermochten ihn zu beruhigen und zu bewegen, wieder am Zangenberge vorüber zu gehen. Der Geistliche des Orts und der Richter wurden zu Rathe gezogen, aber er beharrte bei seiner Aussage und empfand solche Furcht, daß er bei Tag und Nacht keinen Augenblick allein bleiben wollte. Der Knabe hatte weder viel gelesen noch gesehen und gehörte keines wegs zu den phantasiereichen Menschen. Noch jetzt scheuen sich Viele in der Dämmerung bei dem Berge vorbei zu gehen. Andere gehen absichtlich hin, um das Abenteuer zu bestehen und den Schatz zu heben. Die Jungfrau hat sich aber nicht wieder sehen lassen.

Anmerkungen: Zur Weihnachtszeit zeigt sich Hulda, Frau Holle (Grimm S. 182). Das Wäschebleichen und Gefäßehinstellen erinnert an die Wassermannsfrau und an die Zwerge. Die verschiedene Stimmung, angedeutet durch schwarze und weiße Kleidung, ist sehr charakteristisch für die polarische Natur weiblicher Gottheiten.

Wie Hulda in den Berg gebannt ist, so sind es vorzüglich weiße Frauen, auf welche der Begriff der Berg verwünschung Anwendung leidet. „Göttliche, halbgöttliche Wesen des Heidenthums, die den Blicken der Sterblichen noch zu bestimmter Zeit sichtbar werden, am liebsten bei warmer Sonne erscheinen sie armen Schäfern und Hirtenknaben“ (Grimm, Mythol. S. 541). Die Geschichte von dem Kopfabschlagen spielt noch einmal in der Schatzsage vom Krischaer Raubschlosse.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862