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Die weiße Frau im Schlosse zu Sohra

  Mündlich.

Im Schlosse zu Sohra bei Görlitz zeigt sich von Zeit zu Zeit eine weiße Frau. Sie wandelt durch das ganze Schloß hindurch, hat ein jugendliches, aber blasses und leidendes Ansehen und allezeit einen großen Bund Schlüssel am Gürtel ihres altmodischen Gewandes. Vorzüglich zeigt sie sich in dem alten Ahnensaale des Geschlechts der Herren Moller von Mollerstain, welche früher das Schloß besaßen, und verschwindet mit einem schweren Seufzer an der Stelle, wo die Wand mit Blutflecken besudelt ist, welche niemals ganz verschwinden. Diese Blutflecken und das Erscheinen der weißen Frau haben eine traurige Veranlassung.

Die weiße Dame ist nämlich die Ahnfrau jenes Geschlechtes. Aber ihre Schönheit brachte Fluch über dasselbe, denn ihr Gemahl ermordete aus Eifersucht seinen eigenen Bruder und floh, von Verzweiflung erfaßt, in die weite Welt. Der Blutflecken in jenem Saale bezeichnet die Stelle des Brudermordes. Seine Kinder pflanzten das Geschlecht fort und waren bis zum vorigen Jahrhunderte Besitzer der Herrschaft. Aber auch noch unter den späteren Besitzern erschien von Zeit zu Zeit die weiße Frau, allemal wenn etwas Wichtiges sich ereignen sollte.

Erst in diesem Jahrhundert jedoch kam es an den Tag, daß der entflohene Brudermörder in Rußland eine neue Heimath gefunden und eine zweite Linie von Mollerstain gegründet hatte. Dies stellte sich nämlich heraus, als im Jahr 1814 ein junger russischer Obrist von Mollerstain mit seinem Regimente in die Gegend kam und in Sohra sein Quartier nahm. Wie erstaunte er, als er, in den Hof einreitend, im Sohraer Schlosse das vollkommene Abbild seines väterlichen Schlosses in Rußland erkannte. Der Flüchtling hatte in der Fremde sein Haus nach der Erinnerung gerade so bauen lassen, wie das Haus seiner Geburt und seines Verbrechens. Diesem russischen Offizier soll die Ahnfrau nicht nur erschienen sein, sondern auch ein langes Gespräch mit ihm gehabt haben.

Das Schloß des Ermordeten hat einige hundert Schritte von dem seines Bruders gestanden. Im Schloßparke sind noch deutliche Spuren. Der Wallgraben umfließt den Platz, wo es stand. Vor einigen Jahren entdeckte man dort verfallene Keller.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862