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Der Ludki-Ring der Familie von Heynicke

  Alt-Döbern

Im Schlosse von Alt-Döbern wohnte im vorigen Jahrhundert die Familie von Heynicke. Eines Nachts schlief die Frau von Heynicke in ihrem Schlafzimmer. Plötzlich wurde sie durch ein Geräusch erweckt, ihr gegenüber in der Wand that sich eine Tapetenthür auf, von der sie früher nie eine Spur bemerkt hatte, ein kleines Männchen trat daraus hervor und winkte ihr mit ängstlicher Geberde, sie solle ihm folgen. Sie aber kam nicht. Da winkte das Männchen ihr noch einmal, mitzukommen, aber die Frau von Heynicke ging wieder nicht. Da verschwand das Männchen.

Plötzlich erschien das Männchen zum zweiten Male und winkte noch ängstlicher als zuvor. Doch Frau von Heynicke ging wieder nicht. Endlich öffnete sich die Thür zum dritten Male, das Männchen trat dicht an das Bett der Frau von Heynicke und sprach: „Komm schnell mit, Du sollst meiner Frau helfen, sie ist in Kindesnöthen; bitte, komm ja schnell und hilf.“ Darauf stand die Frau von Heynicke auf und zog sich an, um dem Männchen zu folgen. Das Männchen öffnete die Tapetenthür, darauf traten sie in einen langen Gang. In demselben gingen sie eine Weile fort, bis sie, wie die Frau von Heynicke merkte, tief unten im Keller waren. Hier lag, auf Moos gebettet, ein schönes, zwergähnliches Weib in Kindesnöthen. Die Frau von Heynicke half ihr, so gut sie konnte; als Alles gut von Statten gegangen war, sprach das Männchen, indem es einen Ring hervorzog: „Dies ist die Belohnung für Deine Mühe: so lange der Ring ganz ist, wird das Glück Deiner Familien blühen; solltest Du aber den Ring verlieren oder zerbrechen, von Stund an wird das Glück von Euch weichen.“ Frau von Heynicke steckte den Ring an ihren Finger, dann wurde sie von dem Männchen wieder bis zu ihrem Schlafgemach geführt. Dort legte sie sich wieder hin und schlief.

Am andern Morgen glaubte Frau von Heynicke, sie habe geträumt, aber der Ring an ihrem Finger bewies ihr das Gegentheil. Darauf ging sie zu ihrem Manne und erzählte ihm Alles, was sie in der Nacht erlebt hatte und zeigte ihm auch den Ring. Ihr Mann aber hatte nie einen ähnlichen Ring in seiner Familie, noch in der seiner Frau gesehen. Man suchte die Tapetenthür, aber es wurde keine gefunden, auch war kein Gang im Keller zu entdecken. Frau von Heynicke hat eine geraume Zeit den Ring an ihrem Finger behalten und ihr und ihrer Familie ist es stets gut gegangen, aber als sie alt geworden war, ist der Ring plötzlich zerbrochen. Von dieser Zeit ist es allmählich mit den Vermögensverhältnissen der Familie rückwärts gegangen.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880