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Die wandelnde Laterne

  S. Bechstein a. a. O. S. 241 fg.

Bei Camburg, einer Stadt im Saalthale zwischen Jena und Naumburg, lag vor Zeit das Cyriakskloster; von diesem sollen Gänge bis unter den Dom zu Naumburg geführt haben. In der Herbstzeit wandelt nun aber ein Licht, im Volke als die Laterne allgemein bekannt, von der Stätte des Cyriakklosters über die Saale hinüber, umwandelt drüben einen großen Bogen und kommt dann wieder zurück.

Im nahen Dorfe Leislau lebte einst ein reicher Mann, Vater eines einzigen Sohnes, welcher eine heftige Liebesneigung zu einem Mädchen geringer Herkunft gefaßt hatte. Der Vater aber mißbilligte diese Liebe und fuhr mit dem Sohne nach Naumburg, wo er ihn zwang, Geistlicher zu werden. Nach einiger Zeit wurde der junge Cleriker Mönch im Cyriakskloster. Dort seiner Geliebten wieder näher, sann er auf öftere Vereinigung mit ihr, und entdeckte eine Fallthüre, die aus dem Kloster führte, die er jedoch jedesmal, wenn er durch sie aus dem Kloster geschlüpft war, wieder hinter sich verschloß. Mit einer Blendlaterne eilt er die Mönchsschöppe herab, am Saalufer eine kleine Strecke aufwärts, wo er einen Kahn wußte, und fährt zum sogenannten Clausfelsen hinüber. Dort gelandet, steigt er zum Clausberg hinauf, wandert über die Höhe und ist glücklich in den Armen seiner Geliebten, aus denen er nach einigen Stunden auf gleichem Wege wieder heimlich in sein Kloster zurückkehrt.

Immer waren dem jungen Mönche diese nächtlichen Fahrten geglückt, allein einst, bei seiner Rückkehr wollte es das Unglück, daß die schwere Fallthür wieder zufiel und ihm die Hand abschlug, in welcher er die Laterne hielt. Man fand ihn am andern Morgen verblutet todt auf der Treppe des geheimen Ganges, aber die rechte Hand samt der Laterne war verschwunden. Sie ist es, welche die nächtliche spukhafte Erscheinung nun alljährlich hervorbringt, Viele haben sie schon gesehen und Niemand bezweifelt dieselbe.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 412