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Die Betfahrt nach Ebersdorf

  Ziehnert Bd. III. S. 184 sq.

In Ebersdorf stand vor alten Zeiten in der noch jetzt auf dem dasigen Kirchhofe stehenden Kapelle ein berühmtes Muttergottesbild. Dasselbe wurde so häufig besucht, daß außer dem Pfarrer noch sechs Kaplane angestellt werden mußten, welche in den sechs um die Kirchhofmauer herumstehenden sogenannten Pfaffenhäusern wohnten. Unzählige Wunder sollen von dem Marienbilde vollbracht worden sein und man zeigt noch eine Menge Reliquien, z. B. das gleich zu besprechende Goldschiffchen und eine Krücke, welche ein durch die Berührung des Marienbildes geheilter Lahmer getragen hat. Diese Krücke ist mit der Jahrzahl 1333 gezeichnet und man liest an ihr die eingeschnittenen Worte: „Kruck, Du bist mein Ungluck – zu meinem Ungluck hab ich ein schon Kruck.“

Die zahlreichen Wallfahrten nach Ebersdorf reizten oftmals die Raubsucht der Ritter auf Schellenberg und Lichtenwalde, welche beiden Schlösser der Raubsucht ihrer Besitzer den Namen danken, indem Schellenberg von dem Glockensignale und Lichtenwalde von dem Feuersignale (Licht im Walde), welches sich die Räuber gegenseitig gaben, genannt ward. Unter mehreren Geschichten aber, welche man sich von dem Raubgesindel erzählt, ist folgende besonders meldenswerth:

Am Sylvestertage des Jahres 1212 unternahmen die Mönche des Cisterzienserordens in Freiberg eine große Betfahrt nach dem Marienbilde zu Ebersdorf, um daselbst Gott für den reichen Bergsegen zu danken. Es war eine strenge Kälte, der Schnee hatte die Wege zugeweht und die Wasser waren zugefroren. Doch mit freudigem Muthe zog die Schaar der Betfahrer unter frommen Gesängen rüstig am Schieferbache hin.

Da brachen plötzlich aus der dichten Waldung die Räuber von Schellenberg und Lichtenwalde und drangen auf den Zug ein, um die kostbaren Geräthe, Fahnen und Kleinode, welche bei einer Betfahrt damaliger Zeit nie fehlen durften, mit Gewalt zu rauben. Augenblicklich gerieth der Zug in wilde Verwirrung und die Mönche flohen mit Jammern und Entsetzen, aber der Schirmvoigt, ein tapferer Ritter, warf sich mit seinen Reisigen und Klosterknechten den Räubern entgegen. Es entbrannte ein hitziger Kampf, welcher eine gute Weile währte und zuletzt mit dem Siege der guten Sache endigte. Die Räuber wurden geschlagen und flohen nach dem Flöheflusse, hoffend, daß das Eis sie tragen werde. Doch die dünne Eisdecke in der Mitte des Flusses brach und mehr als die Hälfte der Räuber ertrank in den kalten Fluthen. Die übrigen flüchteten das Ufer entlang stromaufwärts und verkrochen sich in eine Felsenschlucht.

Als dies die Klosterknechte gewahrten, besetzten sie den Eingang der Schlucht und wollten die Räuber darin mit den Waffen angreifen. Aber ihr Anführer, der Schirmvoigt, gebot, sie sollten ihr Blut schonen und die Räuber durch Feuer verderben. Hierauf schlugen die Knechte eine Menge Baumstämme nieder, zündeten sie an und warfen sie in die Schlucht, bis dieselbe zuletzt einem brennenden Ofen glich. So wurden die Räuber von Schellenberg und Lichtenwalde vertilgt und der Weg für die Betfahrer wenigstens auf einige Zeit sicher. Jene Felsenschlucht aber, worin die Räuber verbrannt wurden, heißt noch heute zum Andenken an jene Begebenheit der Höllengrund.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 496