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Die Linde auf dem Kirchhofe zu Annaberg

  Andrä a. a. O. S. 62 sq. 
  Anders b. Dietrich. Die rom. Sagen d. Erzgebirges. Bd. 1. S. 319 sq.

Auf dem Gottesacker zu Annaberg steht eine ungeheuere Linde, die 9¼ Ellen im Umfange und 3 Ellen im Durchmesser hat und 16 10 Ellen lange, unten am Stamm herausgewachsene und auf 24 Säulen ruhende Wurzeln oder Aeste hat. Die Höhe des Stammes beträgt 3 Ellen. Nach der Volkssage verdankt sie ihr Entstehen folgendem Wunder:

Auf der nach ihm so genannten Riesenburg, einer Besitzung in der Nähe der Stadt, lebte zu Anfange des 16. Jahrhunderts der Bergschreiber Adam Ries, dessen Name durch sein Rechenbuch eine gewisse Unsterblichkeit erlangt hat. Er brachte alle seine freie Zeit mit Nachdenken über religiöse Gegenstände zu und besonders machte ihm die Lehre von der Auferstehung viele Scrupel.

Er liebte es daher, auf den Gottesacker zu gehen und hier über diesen Gegenstand weiter zu meditiren. Dies that er auch am 16. Oct. 1519, und zwar in Gesellschaft seines Beichtvaters. Derselbe bemühte sich, ihm aus der heiligen Schrift die Wahrheit dieses Dogma’s zu erweisen, allein vergebens; endlich zog derselbe ein in der Nähe stehendes junges Lindenbäumchen aus der Erde und steckte es mit den Worten: „So wahr es ist, lieber Ries, daß ich dieses junge Bäumchen verkehrt in die Erde stecke und es zu einem großen Baume heranwachsen wird, eben so gewiß giebt es einst eine Auferstehung!“

Zwar machten diese Worte auf den Ungläubigen keinen Eindruck, als er aber kurze Zeit nachher wieder auf den Kirchhof kam, sah er, daß das Bäumchen vollständig in die Erde eingewachsen war. Seit dieser Zeit ward er aber gläubig und blieb es bis an seinen Tod, der im Jahre 1559 erfolgte.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 439