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Die alte Frau in der Thomasschule

  S. Monatl. Unterr. a. d. Reiche d. Geister. Bd. I. S. 697 fgg.

Früher pflegten die Thomasschüler, wenn sie erkrankten, in den sogenannten rothen Thurm bei demselben gebracht zu werden.

Einst stieß einem Schüler nun eine heftige rothe Ruhr zu und er ward, um seine Mitschüler nicht etwa anzustecken, dorthin als in das gewöhnliche Krankenhaus gebracht. Er war daselbst in Gesellschaft eines andern Schülers, welcher am viertägigen Fieber darniederlag. Zu ihrer Bedienung hatten sie eine Wartefrau, welche in demselben Gebäude unter ihnen wohnte, aber wenn sie sie bedient hatte, abging und sie allein ließ.

Die andere Nacht nach seinem Dorthinkommen ward jener aber so unruhig, daß er keines Schlafes theilhaftig werden konnte, sein Schlafgenosse aber war so fest eingeschlafen, daß er ihn auf keine Art erwecken konnte. Die Glocke hatte bereits eilf geschlagen, da öffnete sich die Stubenthür und eine alte Frau kam hereingetreten, die aber, wie er bei dem hellen Mondschein wohl bemerken konnte, nicht die Aufwärterin war. Sie hatte eine weiße Schleppe, wovon die Flügel unter dem Kinne zusammengebunden waren, auf dem Kopfe, eine Schaube um die Schultern und eine weiße Schürtze vorgebunden.

In dieser Gestalt kam sie auf das Bett des Schülers geraden Weges los und kam ihm so nahe, daß er ihr blasses gelbes Gesicht nebst ihrer langen Nase deutlich sehen konnte. Der Schüler wußte sich vor Schreck nicht anders zu helfen, als daß er das Betttuch vor die Augen hielt, worauf die Erscheinung zurücktrat, sich an den Nachtstuhl begab und denselben ganz ordentlich aufmachte. Jener aber nahm den an seinem Bette stehenden Stock und gab damit der unten wohnenden Wärterin ein Zeichen, er hörte dieselbe auch ohne Verzug die Treppe heraufkommen, die alte Frau aber wendete sich nach der Ecke der Stube und verschwand.

Als die Wärterin heraufkam, erzählte ihr der Schüler den ganzen Vorgang, fiel aber alsbald vor Aufregung in Ohnmacht, also, daß man ihm eine Ader schlug, wobei aber kein Tropfen Blut kam. Dieselbe Frau ist aber auch noch andern Personen zur Mittagsstunde erschienen, wenn sie oben auf dem Boden des Thurmes Wäsche aufhingen.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 385