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Ein Doppelgänger zu Leuben

  Sickel, a. a. O. S. 71. sq.

In dem zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts ging eines Morgens um 6 Uhr der Pachter des Rittergutes Leuben nach seiner Gewohnheit aus dem Herrenhofe, der rings herum mit einem starken Wassergraben versehen war, durch die daselbst befindliche anmuthige Baumallee über die nach der linken Seite hin gelegene Wiese bis zu einem schmalen Stege, welcher sich über dem nach dem Dorfe führenden Wassergraben befand und ohngefähr einen Büchsenschuß vom Rittergut entfernt war, spatziren. Da erblickt er nicht gar weit davon ein ihm nach dem Stege zu entgegenkommendes Frauenzimmer von feiner Gestalt, etwas hagerer, langer Statur und dabei in einer ihm wohlbekannten Kleidung.

Er eilt ihr also entgegen, weil er nach allen Umständen es für gewiß hielt, daß diese seine in der Stadt Mühlberg an einen dasigen Gelehrten verheirathete Tochter sei. Er schlug demnach vor Freuden in die Hände, und rief ihr zu: „wo kömmst Du her, liebe Tochter?“ Sie lächelte ihn gleichfalls mit freudiger Miene an, gab aber keine Antwort von sich. Indem er nun über den schmalen Steg geht, ihr die Hand zu reichen, und sie über denselben zu führen gedachte, weil es eben geregnet hatte und es auf dem Wege noch glatt war, verschwand sie, ehe er noch über den Steg gelangte, vor seinen Augen, worüber er auf einmal traurig ward, nach Hause eilte und den Seinigen mit bekümmerter Miene das Vorgefallene erzählte.

Weil er nun glaubte, daß seine Tochter wahrscheinlich krank darniederliege, ruhte er nicht eher, als bis er am folgenden Tage nach Mühlberg reiste und sich selbst von ihrem Befinden überzeugen konnte. Als er aber bei ihr anlangte, fand er sie gesund und wohl, sie sagte indeß, als er ihr erzählte, was ihm auf dem genannten Wege begegnet sei, sie habe gestern Morgen gerade recht fleißig an ihn gedacht und sich nach Hause gesehnt. Darauf hat er sie von da abgeholt und mit nach Hause genommen.

Die wunderbare Vision aber hat obgedachter Hauslehrer Sickel aus seinem eigenen Munde gehört.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 272