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Die goldenen Kohlen auf dem Kiffhäuser

  Nach Sommer, Sagen aus Sachsen und Thüringen. Halle 1846. S. 2 etc.

Nach einer ebenfalls in der Umgegend des Kiffhäusers verbreiteten Sage ist der Kaiser, der in dem Berge sitzt, nicht Friedrich Barbarossa, sondern Kaiser Otto mit dem rothen Barte. Dieser soll mit der Geistlichkeit in bittern Streit gekommen sein, und da machten ihm die Reichsgeschäfte bald keine Sorgen mehr. Man sagte dem Volke, er sei plötzlich gestorben und veranstaltete ein feierliches Begräbniß; doch der Kaiser lag nicht im Sarge, sondern schmachtete im Gefängniß. Und als er nach vielen Jahren starb, fand sein Geist keine Ruhe im Grabe, sondern irrte lange umher, bis er sich den Kiffhäuser zur Wohnstatt erkor.

Ein armer Schäfer hatte gehört, daß einst eine Bande Musikanten dem Kaiser Otto ein Ständchen auf dem Berge gebracht und von seinem Kastellan jeder mit einem grünen Zweige beschenkt worden seien, die sie zwar bis auf einen weggeworfen hätten, allein welche, wie man aus dem einzigen übriggebliebenen gesehen, von purem Golde gewesen seien. Er trieb nun immer auf den Kiffhäuser und dachte: »Wenn ich nur den Weg wüßte, der in den Berg zum Kaiser Otto führt; da er ein so reicher, wohlthätiger Herr ist, so würde ich ihm meine Armuth klagen und er würde sich gewiß meiner annehmen.«

Und wie er einst auch wieder so bei sich dachte, bemerkte er vor seinen Füßen eine Fallthür, die er nie zuvor gesehen hatte. Er öffnete sie und stieg eine lange Treppe in den Berg hinab bis in einen weiten hochgewölbten Saal. Dort saß der Kaiser Otto mit seinem langen rothen Bart an einem großen steinernen Tisch und um ihn her saßen viele Ritter und Schildknappen in voller Rüstung. Schüchtern blieb der Hirt am Fuße der Treppe stehen, doch der Kaiser winkte ihm freundlich und sprach: »Ich weiß schon, weshalb Du kommst; hier nimm Dir soviel Du brauchst, und wenn Du heimkommst, grüße Dein Weib und Deine Kinder von mir!« Und damit wies er auf einen Haufen glühender Kohlen, der in einem Winkel lag. Der Hirt beugte sich ängstlic über die Kohlen, doch er wagte nicht sie anzurühren.

Da lachte der Kaiser und rief: »Greif nur zu, es brennt nicht; doch nimm nicht zu wenig.« »Ja zu wenig«, dachte der Hirt, »wenn nur was zu nehmen wäre. Um Kohlen zu verschenken und arme Leute auszulachen, braucht man kein Kaiser zu sein!« Doch weil er sich fürchtete zu widersprechen, füllte er seine Hirtentasche mit Kohlen, verneigte sich tief vor dem Kaiser und seinen Rittern und Knappen und stieg die Treppe wieder hinauf. Und wie er oben die Kohlen aus der Tasche schütten wollte, war dieselbe voll gediegenen Goldes und der Schäfer war so reich wie jener Musikant, der seinen Busch behalten hatte, doch die Fallthüre konnte er nicht wiederfinden.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 444