Der Furchengänger

Als vor langer Zeit die Mühlen am Nideggener Bach in Brück noch Korn mahlten, hatten die Müllersleut einen beschwerlichen Weg zur Pfarrkirche. Aber trotz des mühevollen Kirchweges fehlten sie bei keiner sonntäglichen Messe und auch an jedem Feiertag knieten sie fromm neben den Nideggenern. Selbst in der Heiligen Nacht konnte kein Wetter sie abhalten, die Messe zu besuchen.

Auf einem solchen Gang hatten sie einmal ein seltsames Erlebnis. Den ganzen Tag hatte es gestürmt und geregnet. Lange hatten sie hin und her überlegt, ob bei diesem Unwetter der nächtliche Gang nicht besser unterbliebe. Doch noch nie hatten sie eine Messe versäumt und so brachen sie um Mitternacht auf. Es war stockdunkel, man sah keine Hand vor den Augen. Mächtig rauschte der Bach, der Sturm fauchte durch den Wald und es goss in Strömen. Der Knecht schritt mit der Laterne voran, hinter ihm stapften die vermummten Müllersleut.

Plötzlich sahen sie vor sich ein Licht. Es schien über einem Acker zu schweben und schwankte dicht über dem Boden. Sie konnten nicht sehen, ob es jemand in der Hand hielt. Jetzt war es nur noch ein glimmendes Fünkchen, aber nun kam es denselben Weg zurück. Das Fünkchen wurde größer und näherte sich wie etwas suchend. Den Leutchen wurde es bang und bänger und sie blieben stehen, um zu lauschen. Der Knecht hob seine Laterne, aber das seltsame Licht kam lautlos immer näher. Und nun konnten sie in der Grenzfurche zweier Äcker ein uraltes, gebeugtes Männlein stehen sehen, dass eine Laterne in der linken Hand hielt und mit der Rechten einen schweren Stein gegen die Brust presste. Der Alte keuchte und stöhnte jämmerlich, seine Augen irrten über die Furche, als läge darin seine ewige Seeligkeit. Immerfort

Da wusste der Müller, dass er einen Furchengänger vor sich hatte, der einen Grenzstein schleppen musste, den er zu Lebzeiten voll Habgier dem Nachbarn heimlich versetzt hatte. Er erschrak zwar, aber er hatte auch Mitleid mit diesem armen Untoten, der kein Grab finden konnte wegen seiner Sünde.

Und weil jetzt doch die Heilige Nacht war, die der Erde den Frieden gebracht, wollte er auch der armen Seele den Frieden schenken.

Er wusste, dass man einen Furchengänger nicht stören durfte und dass er erlöst werde, wenn er auf seine Frage die richtige Antwort bekäme und diese Antwort hatte ihm einst sein seliger Vater überliefert. Darum rief er der unheimlichen Gestalt, als sie ganz nahe war, zu: „Setz ihn, wo du ihn nahmst!“ und im selben Augenblick ließ der Alte den Stein mitten in die Furche fallen und rief voll unbeschreiblicher Seeligkeit: „Hab Dank, du hast mich erlöst!“

Das Licht erlosch und es war niemand mehr zu sehen. Es hörte auf zu regnen, der Sturm ließ nach und am nächtlichen Himmel funkelte ein einsamer Stern.

(In der Version von Margot Klinke heißt diese Sage „Der verrückte Stein“)

Quelle: Frei nach P. Kremer; www.heimat-geschichtsverein-nideggen.de