<<< vorherige Sage | Reinhardtswalder Sagenbüchlein | nächste Sage >>>

Die Wunderblume

Zur Heidelbeerzeit war vor Jahren eine arme Frau mit ihren zwei Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, im wüsten Dorfe, um Beeren zu sammeln. Frühzeitig waren sie von zu Hause dahin aufgebrochen, um den Tag recht ausnützen zu können. Als die Sonne am höchsten stand und den fleißigen Beerensammlern die Mittagszeit ansagte, sprach die Mutter zu den Kindern: „Nun wollen wir unser Mittagsbrot verzehren!“ Die Kleinen kamen schnell herbei, und die Mutter teilte unter sie die mitgebrachten Bemmen aus. Jedes erhielt auch ein Töpfchen Kaffee, den sie im Krug von zu Hause mitgenommen hatte. Wie das allen schmeckte! Die köstliche Waldluft hatte den Appetit gehoben. Fröhlich plauderten die Kinder und freuten sich, daß bis jetzt so viele Beeren gefunden hatten. „Wie wird auch der gute Vater sich freuen!“ meinte der Knabe. Da rief plötzlich das Mädchen aus: „Mutter! Mutter! Sieh doch die schöne Blume! Die leuchtet ja wie Gold!“ – Die Mutter folgte mit ihren Blicken der angedeuteten Richtung. Ja, was war das! – Von jener Blume ging ein leuchtender Schein aus, der so hell war, daß er fast die Augen blendete. Voll Verwunderung blickten Mutter und Kinder jene seltsame Blume an, doch wagte es niemand, hinüber zu gehen und sie zu pflücken. So mochten mehrere Minuten vergangen sein, als die Blume auf einmal blitzartig aufleuchtete und – verschwand. Sie war nirgends mehr zu sehen. –

Noch an manchem Tage kam die Frau mit ihren Kindern ins wüste Dorf, aber jene Wunderblume hat sie nicht wieder gesehen. Sie blüht selten; aller hundert Jahre nur an einem bestimmten Tage eine Stunde lang zur Mittagszeit. Wer da gerade im wüsten Dorf ist und es wagt, die Wunderblume zu brechen, der kann mit ihrer Hilfe alle verborgenen Türen, die zu großen Schätzen führen, finden und öffnen. Er würde unermeßlich reich werden.

Quelle: Friedrich Bernhard Störzner: Reinhardtswalder Sagenbüchlein. Buchhandlung Otto Schmidt, Arnsdorf in Sachsen 1924