Die Geschichte vom Matronenfest

Es muss schon lange her sein, da kommt einer am Abend vor der Weihnacht vom Eifelstädtchen Münstereifel. Er hatte dort das Christkind bestellt, schritt aber nun rüstig aus, um noch vor dem Dunkel sein Heim zu erreichen. Der gute Mann hatte die Nöthener Tannen bereits hinter sich und schritt auf sumpfigem Wiesenpfade der bewaldeten Addighöhe zu, um so auf kürzestem Wege sein Heimatdörflein Pesch zu erreichen.

Kaum ist er im Walde da oben angelangt, fallen graue |Nebelschleier, dichte Wolkenknäuel herab in das Gebüsch. Woher und wie sie so plötzlich gekrochen, war nicht festzustellen. Wer hätte auch ahnen können, dass die Feen oder Waldfrauen oder Matronen in der Christnacht ihr Fest haben und dann in langen, dichten Nebelgewändern majestätisch durch ihr Reich schreiten.

Die Nebelballen waren diesmal so undurchdringlich, dass der Heimkehrende tatsächlich die Hand nicht mehr vor den Augen sieht. Er denkt an Frau und Kinder; kalter Schweiß dringt ihm aus den Poren. Er ruft und schreit, nirgends eine Antwort. Er möchte aus dem Walde zurückgehen. Auch das ist unmöglich. Tastend wankt er vorwärts, stolpert, fällt, steht wieder auf, bleibt im dornigen Gestrüpp hängen. Waldgottheiten, Feyen und Matronen sind unverzeihlich, sobald der ahnungslose Wanderer zu ihrer Stunde die festliche Ruhe stört. „Wie werden Mutter und Kinder sich ängstigen, da ich nicht zurückkehre!“ seufzt der unglückliche Vater.

Indem er so von Baum zu Baum strauchelt und tastend torkelt, fühlt er sich auf einmal vor einem niedrigen Gemäuer. Dem schreitet er vorsichtig entlang und wendet seitwärts seine Schritte ins Ungewisse. Unheimliche Angst befällt ihn. Ein unsichtbares Etwas hält ihn an, der vorgestreckte Fuß findet nicht festen Boden; er tastet und sucht ins Leere. Unwillkürlich taumelt er ein wenig zurück, sein Atem stockt. Eiskalter Schweiß rieselt über den Rücken, die Glieder zittern, er sinkt in sich zusammen.

Drüben im kleinen Häuslein des Eifeldörfchens Pesch falten unschuldige Kinderherzen ihre Händchen zum Abendgebet und bitten das liebe Christkind, es möge den lieben Vater doch recht bald wieder zurücksenden. Die sorgenvolle Mutter weint nicht vor den Augen der Kinder; sie unterdrückt den Schmerz. Nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht, durchwacht sie qualvolle Stunden mit Beten, erwartungsvoller Spannung, böser Ahnung. Immer wieder öffnet sie das Fenster, dann die Türe. Der Nebel hat sich unterdessen in das Tal gesenkt. Sie schaut in den grauen Dunst, möchte hinausstürmen und alle Nachbarn um Hilfe bitten.

Alles ringsumher liegt in mitternächtlicher Stille. Sie fürchtet sich selbst. Um ihrer Kinder willen will sie stark bleiben; sie kann und mag sie jetzt nicht verlassen. Ausharren will sie bis zum frühen Morgen, da die Nebel hoffentlich schwinden.

Währenddessen liegt der Vater im Nebeldunst auf der Addighöhe. Er horcht! Was schallt da geisterhaft aus der Tiefe? Geisterhaft, feierlich klingen aus naher und unsichtbarer Tiefe Glockenklänge an sein Ohr. Aus dem Schoß der Erde, einer andern Welt, scheinen sie zu strömen, harmonisch und voll. Nicht wagt der Dörfler sich zu rühren; immerfort klingen die Glocken; bum - bam - bim - bum! Unwillkürlich richten sich die Blicke dorthin, wo das Geläut heraufdringt zu seinem Ohr. Er schaut, ja stiert durch das Grau gespenstischen Nebeldunstes. Täuschen ihn nun die Augen? Da erblickt er prunkvolle Tempel mit vornehmen, antiken Säulen und prachtvollen römischen Hallen. Und drüber wölbt sich der tiefblaue Himmel über rotschimmernde, übersonnte Dächer.

Und seltsame Menschen mit schwarzhaarigen Köpfen und fremden, sonnenverbrannten Gesichtern wandeln dort einher. Die Männer tragen kurze Beinkleider, und wallende Mäntel hängen um ihre Schultern. Die Frauen sind in weiten, faltigen Kleidern gehüllt. In der langen Wandelhalle drüben schöpfen einige zierliche Mädel aus tiefem Brunnen frisches Eifelwasser. Eine muntere Kinderschar umlagert den geschmackvoll eingefriedigten Brunnen; sie lässt mit Wohlbehagen den Becher kreisen. Vor einem zierlichen Tempel in Quadratform steht - in Andacht versunken - eine Pilgerschar. Vom Opferstein inmitten des Tempelinneren kreist in feinen Wölkchen Weihrauch empor; vorsichtig tritt er aus der geöffneten Tür des heiligen Raumes und hüllt den angrenzenden Säulenrundgang, die dort stehenden Weihedenkmäler und Matronenverehrer mit seinem ehrfürchtigen Dufte ein.

Im Hintergrunde des Tempelinnern fällt der Blick auf drei sonderbare Figuren - sie stellen die ehrwürdigen Göttinnen, Matronen oder Mütter der Kelten dar, sitzend auf einer Steinbank; in der Hand und im Schoße halten sie Blumen und Fruchtkörbchen. Kinder treten herzu, legen Blumen auf den Opferstein, Männer, darunter auch Krieger mit wetterfesten, braunen Gesichtern und kurzem Seitenschwert, werfen römische Münzen in die Opferschale. Behäbige Keltenfrauen drängen sich vor, Brot, Geflügel, Fleisch und anderer Speisen weihend.

Eine hohe, sehr ernste Männergestalt, der Tempelpriester der Heiden, tritt nun vor den Opferstein. Jünglinge mit brennender Fackel stellen sich vor das Bild der Gottheiten. Der Templer murmelt unverständliche Worte über die Opfergaben. Die Pilger sinken in die Knie, voll Ehrfurcht das Gesicht verhüllend. Aus einem weiteren größeren Festtempel erschallen Gesänge, brennende Fackeln erhellen den Festraum, duftende Wolken glimmernden Harzes erfüllen ihn. Auch hier atmet alles Weihe und kultische Feier. Glanzvolle Feststunden keltischer Matronen!

Wie lange unser verirrter Dörfler diese alte Tempelherrlichkeit geschaut, ist nicht bekannt geworden. Da nach Mitternacht die Nebel weichen, sieht der vom Schauer erfüllte Mann gleich vor sich eine gähnende Tiefe. In Eile stürzt er aus dem Walde seinem Dorfe und seinem Hause zu. Hier findet er die weinende Mutter, die bangend und betend die Christnacht durchwacht und soeben ihre Kinder zur Christmette geweckt hatte. Der Vater umarmt die Kinder und erzählt sein Erlebnis.

Quelle: Wilhelm Hohn, Eschweiler. In: Euskirchener Land im Wandel der Zeit, 1927, Seite 19 - 21 (leicht gekürzt)