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Die Frau Holle und die Flachsdiesse

In Clausthal wohnten einst zwei Mädchen, die hatten nicht Vater noch Mutter und mussten sich deshalb von ihrer Hände Arbeit nähren. Das Einzige, womit noch etwas verdient werden konnte, war Spinnen. Eines der Mädchen spann recht fleißig, das andere aber schwatzte gern und brachte damit die Zeit hin und des Abends war es das Erste, das anfing zu nicken und zu schlafen. Wenn die Fleißige des Abends um elf Uhr aufhörte, so hatte die Faule schon ein paar Stunden geschlafen. Daher hatte denn das fleißige Mädchen so recht seine Not mit der faulen Schwester.

Nun kam Ostern ins Land. Am Osterheiligenabend saß die Fleißige und spann, während die andere fortgegangen war, um die Osterfeuer zu sehen und Kurzweil zu treiben. Als die Liese nun so saß und spann, schlug es eben elf. Da ging die Tür auf und herein trat eine schöne Frau, die trug ein langes, weißes, seidenes Kleid, hatte schöne lange goldgelbe Haare und hielt in der Hand eine schöne Diesse1), so weiß wie Silber und so fein wie Seide. Die grüßte mit freundlicher Stimme das gute Mädchen, das seinen letzten Flachs eben als Faden auf die Rolle laufen ließ, befühlte das Garn und sprach:

Fleißige Liese,
leer ist die Diese,
fein ist der Faden,
bist wohl beraten.

Dann berührte sie mit ihrer goldenen Diesse das Spinnrad des Mädchens, lächelte freundlich und verschwand. Und wer war das? Das war die Frau Holle.

Die fleißige Liese ging nach dieser Erscheinung zu Bett, ihre Schwester kam später nach Hause und legte sich auch hin. Am Ostermorgen, als die beiden Mädchen aufstanden, da stand statt des hölzernen Spinnrades ein glänzend goldenes da, das funkelte und glitzerte ganz prächtig, und das Garn, das die Liese gesponnen hatte, war so sein und weiß wie Seide. Beim Abhaspeln fand sich auch noch das große Glück, dass das Garn auf der Rolle nicht abnahm. Sie mochte noch so viel abhaspeln, die Rolle blieb voll. Das war aber eine Freude für die Liese! Als aber die Faule nach ihrem Spinnrad sah, da fand sie zu ihrem großen Schrecken, dass statt Flachs Stroh auf der Diesse war. Und in ihrem Kasten lag statt der gehabten schönen Leinewand Häcksel.

Darum spricht man noch heute: Am Heiligen Abend muss die Diesse leer sein, sonst kommt die Frau Holle und bringt Häckerling.

Quelle: Sagen und Märchen aus dem Oberharz, gesammelt und herausgegeben von August Ey im Jahre 1862


1)
Spindel für den Flachs