Der Totesgottesdienst in der Taucherkirche zu Bautzen (Meiche)

Ein Bautzener Fleischer, der sich auf dem Lande verspätet hatte, schritt an einem trüben Novemberabend auf der alten Görlitzer Landstraße munter seiner Vaterstadt zu. Als er bei der, an der genannten Landstraße unfern des Reichentores stehenden Taucherkirche anlangte, gewahrte er Licht in diesem als Begräbniskirche benutzten Gotteshause. Er meinte aber, man hätte sich mit einem Begräbnis verspätet, und trat durch die sich öffnende Türe, um sich die Predigt anzuhören, in den geheiligten Raum ein.

Seinen Hut vor das Gesicht haltend, betete er ein stilles Vaterunser und nachdem dies geschehen, trat er näher zu einer unfern der Türe stehenden alten Frau, um mit in das Gesangbuch derselben zu sehen. Ein eigentümliches Gesumme ertönte durch das Gotteshaus, und der ganze weite Raum war seltsam erleuchtet. Sein Blick streifte über die zahlreiche, seltsam gekleidete Versammlung und er gewahrte mehrere ihm wohlbekannte Personen, von denen ihm aber doch bekannt geworden war, dass sie bereits gestorben seien. Die Frau an seiner Seite winkte ihm und gab ihm deutlich zu verstehen, er solle nun das Haus verlassen.

Da überkam ihn eine eigentümliche Angst, er öffnete die Tür und eilte hinaus ins Freie. Doch kaum war er hinausgetreten, so hörte er einen heftigen Knall, das Licht erlosch und von der Domkirche in der Stadt ertönte der Stundenschlag. Unwillkürlich zählte er, dabei rasch dem Stadttore zuschreitend, die Glockenschläge und siehe, es war gerade Mitternacht.

In Schweiß gebadet, langte der Fleischer am Gitter des Tores an, der wachhabende Soldat öffnete auf sein ungestümes Klopfen das Pförtchen und vernahm, als sich der höchst aufgeregte und vor Entsetzten zitternde Fleischer etwas erholt hatte, aus dessen Munde die seltsame Kunde.

Quelle: Alfred Meiche, Sagenbuch des Königreichs Sachsen, 1268 Sagen in 10 Kategorien, Leipzig 1903, Seite 255