Der "Kreijchkoos"

Am Eingang des Neuerburger Stadtwaldes Lindscheid, unmittelbar neben dem tiefgefurchten Waldweg, überragt eine mächtige Eiche die Wipfel des lichten Buchenwaldes. Noch vor einigen Jahrzehnten war es keine Seltenheit, daß man vor dem Baum, an dessen Stamm ein kleines Kruzifix befestigt war, betende Frauen und Mütter antraf. Einer alten Übung gemäß, deren Ursprung sich nicht ermitteln läßt, suchten sie hier im Gebete Zuflucht, wenn ein Kleinkind das Weinen nicht lassen wollte. Und seit altersher trägt der Baum den Namen „Kreijchkoos“ (Koos = Eiche). Auf diesen Brauch und diesen Baum nimmt die nachfolgende Erzählung Bezug.

Annegret Buchen konnte es nicht länger mehr mit anhören. Das Kind in der Wiege schrie unentwegt, hochrot das Köpfchen, die kleinen Fäustchen geballt. Seit drei Tagen lag es im Fieber. Nur gelegentlich verfiel es in einen kurzen Schlaf der Erschöpfung, um aufs neue das Haus mit den schrillen Rufen eines gequälten kleinen Körpers zu erfüllen. Frau Annegret rief die älteste Tochter an die Wiege, zog ihren Mantel an und verließ das Haus.

Es war ein Nachmittag im Januar. Die Erde bedeckte eine leichte, frostflimmernde Schneedecke. Die Bäume entlang der Talstraße stießen ihre bizarren Äste in einen blankgefegten Himmel. Annegret Buchen wanderte talauf, verließ bald die Straße und strebte auf einem schmalen Fuhrweg dem großen Bergwald zu. Dort oben auf der Berghöhe stand jene alte, mit einem kleinen Kruzifix gekennzeichnete Eiche, zu der die Mütter seit altersher ihr Gebet trugen, wenn ein Kleinkind immerzu weinte. „Kreijchkoos“ nannten sie den gedrungenen, weit ausladenden Baum an einer Weggabelung.

Annegret versuchte zu beten, aber ihre Gedanken verwirrten sich und kehrten immer wieder zurück an die Wiege des Kindes. Der Arzt hatte das Kind offenbar aufgegeben, denn er hatte angedeutet, in diesem Falle könne nur noch Gott helfen. Aber sie wollte das Kind nicht verlieren. Gerade an dieses halbjährige Nesthäkchen hatte sie ihr Herz verloren und, so mußte sie sich gestehen, darüber vielleicht etwas die drei größeren Geschwister benachteiligt. Ein weiteres Kind würde ihnen nicht mehr beschert sein. „Lieber Gott, erhalte mir das Kind!“ Ihre Gedanken mündeten immer wieder in diesen beschwörenden Aufschrei zu Gott.

Der Waldweg war holprig. Der Frost nahm mit dem schwindenden Tageslicht zu; stoßweise umhüllte die Atemwolke ihr Gesicht. Dort lichtete sich der Wald. Über die toten Felder der Berghöhe und die dunklen Wälder der Hänge erblickte sie bereits die Häuser des nahen Städtchens, in denen die ersten Lichter aufglommen. Die Eiche wirkte düster und drohend, doch das am Stamm befestigte Kreuzbild schien verstehend und liebevoll auf sie herabzublicken. Hier, in der Stille, ohne die Hast des Aufstieges fiel ihr das Beten leichter. Die Perlen des Rosenkranzes glitten durch die frostklammen Finger, und während die Lippen den Gruß des Engels formten, sprachen ihre Gedanken immer wieder den Anruf „Herr, erhalte mir mein Kind!“.

Die Stille umgab sie wie die Weihe eines Gotteshauses, und der tröstliche Gleichklang des Gebetes beruhigte ihre Sinne. Die einzelnen Stämme des Waldes verschwammen in der Dämmerung zu einer dunklen Wand. Da war es ihr plötzlich, als sehe sie vor diesem samtschwarzen Hintergrund das fernere Leben ihres Kindes, das dort unten im Tal mit dem Tode rang.

Gleich einer Vision sah sie es, krank an Leib und Geist, abseits ihrer Spielgefährten, gestoßen und gemieden. Sie sah es verlassen und verspottet, ohne den Schutz mütterlicher Sorge, hinausgestoßen in eine harte Welt, in der Genußsucht und Wohlstand Barmherzigkeit und Liebe verdecken. Ihr Flehruf zu Gott verstummte, und während ihr die Tränen langsam aus den Augen tropften, fügte sie dem Gebete zu „Der für uns das schwere Kreuz getragen hat“.

Als Annegret Buchen die Talstraße wieder erreicht hatte, flimmerte über ihr ein Sternenhimmel in friedvoller Pracht. Es war ihr zur Gewißheit geworden, daß daheim inzwischen der Tod eingekehrt war. Der Frieden dieser Nacht jedoch und die Erkenntnis, die ihr auf dem Berge zuteil geworden war, wogen so schwer, daß sie den Schmerz der Mutter in sich aufsogen.

Als Annegret wenige Tage später still und gefaßt hinter dem kleinen weißen Sarg einherschritt, wunderte sich mancher Dorfbewohner, denn er wußte nicht um den Kampf zwischen Gottes Vorsehung und mütterlicher Liebe, der sich dort am alten „Kreijchkoos“ zugetragen hatte.

Quelle: Hans Theis, Neuerburg, 1966