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Das weiße Männchen auf dem Kirchberge

Ein alter Waldarbeiter aus Kleinwolmsdorf hatte sich einst am Kirchberge eine Hütte aus Reisig und Moos hergerichtet. In ihr suchte er Unterschlupf, wenn er bei seiner Arbeit etwa von einem Gewitter oder von einem heftigen Regengusse überrascht wurde. Zur Zeit des Sommers blieb er sogar nachts in seiner Hütte, um dann früh rechtzeitig mit der Arbeit wieder beginnen zu können.

An einem schönen Sommerabend nahm er abermals in seiner Hütte Quartier. Es war eine herrliche Nacht! Droben am Himmel funkelten die Sterne in seltener Pracht. Die Nachtkäuzchen klagten, und die Wipfel der Bäume rauschten so seltsam. Bis gegen 11 Uhr saß der Einsiedler vor der Hütte, schmauchte sein Pfeifchen und lauschte in die stille Nacht hinaus. Da bemerkte er plötzlich, wie aus dem Wiesengrunde den Leichenweg herauf nach dem Kirchberge zu eine weiße Gestalt von zwerghafter Größe langsam geschritten kam. Das bleiche Gesicht des Männchens umwallte ein langer, schneeweißer Bart. Eine hellgraue Mönchskutte bildete das Kleid. Unter dem linken Arme trug das weiße Männchen ein großes Buch, in der linken Hand ein Licht. Bedächtig schritt die Gestalt dahin. – Auf einem Baumstumpfe mitten auf dem Kirchberge ließ das Gespenst sich nieder, breitete das Buch vor sich auf den Knieen aus, stützte sich mit beiden Armen, nachdem es das Licht vor sich auf die Erde gestellt hatte, darauf. Wohl über eine halbe Stunde blieb das weiße Männchen unbeweglich in dieser Stellung auf dem Baumstumpfe hocken, dann richtete es plötzlich den Kopf auf, tat einen tiefen Seufzer, klappte das Buch wieder zu, nahm es unter den Arm, erhob sich und schritt langsam hinab in den Wiesengrund, woher es gekommen war. Bald war das geheimnisvolle Männchen den Augen des alten Waldarbeiters entschwunden. Da schlug es drüben in Kleinwolmsdorf vom Kirchturm Zwölf.

Der Einsiedler war über das Erlebte so erschrocken und aufgeregt, daß er für diese Nacht keinen Schlaf finden konnte. Herzlich froh war er, als die aufgehende Sonne die Spitzen der Bäume beleuchtete und den Anbruch des jungen Tages verkündete. Von jenem Tage ab blieb der alte Waldarbeiter nachts nicht wieder in seiner Waldhütte.

Wie die Leute sich erzählen, soll das weiße Männchen auch in den hellsten Mittagsstunden auf dem Kirchberge des wüsten Dorfes zeitweilig sich sehen lassen.

Quelle: Friedrich Bernhard Störzner: Reinhardtswalder Sagenbüchlein. Buchhandlung Otto Schmidt, Arnsdorf in Sachsen 1924