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Die Schicht in der Christnacht

Niklas war ein liederlicher Geselle. Den Lohn, den er in der Grube erwarb, vertrank und verspielte er. Sein braves und fleißiges Weib musste sich selbst und zum großen Teil auch ihn mit ihrer Hände Arbeit erhalten. Dabei aber erfuhr sie von seiner Seite auch noch schlechte Behandlung. So traf es sich eines Tages, dass, als ihr Mann wieder betrunken nach Hause kam und sie ihm deshalb Vorstellungen machte, er sie bei den Haaren fasste und heftig schlug, ohne ihrer Klagen und ihres Jammers zu achten. Es war gerade am Christabend.

»Dir ist nichts heilig«, schluchzte die Misshandelte, »selbst die hohe Feier der Christnacht entehrst du durch dein wüstes Treiben!«

»Was liegt mir an der Christnacht!«, lärmte der Betrunkene. »Ich will dir zeigen, dass sie mir so gleichgültig ist wie jede andere. Sogleich will ich in das Bergwerk und dort arbeiten, solange es mir gefällt.« Hastig das Grubenlicht von der Wand reißend stürmte er wild zur Tür hinaus.

Er kam zwar trotz seiner Trunkenheit unversehrt in den Schacht, konnte jedoch in seinem Taumel den Ort nicht finden, wo er gewöhnlich arbeitete. Er ließ sich dadurch nicht irre machen, sondern begann an einem anderen Platz, wo gerade Arbeitszeug lag, emsig darauf loszuhämmern. Da hörte er plötzlich um sich ein Summen und Flüstern, Rascheln und Schleifen. Kleine dunkle Gestalten sah er wie der Blitz aus einer Felsenwand herausfahren und ebenso schnell in der entgegengesetzten verschwinden. Ebenso schnell erschienen sie wieder und vermehrten sich in Kurzem derart, dass sie einen förmlichen Kreis um den erstaunten Bergmann schlossen. Nun konnte er deutlich ihre Worte vernehmen, die sie einander zuriefen: »Er ist da, er ist da, sein Fleisch wollen wir essen, seine Knöchlein abnagen. Wird ein gutes Gericht werden. Kommt, die Messerlein schleifen!«

Niklas Erstaunen ging in Entsetzen über, als er diese Reden hörte und nun den ganzen Tross, der aus kleinen gespenstigen Bergknappen bestand, rasch fortstürzen sah. Sein Rausch war mit einem Mal verflogen und hatte einer Nüchternheit Platz gemacht, welche ihm sagte, dass er sich in der Macht böser Kobolde befinde. Die Worte seines armen Weibes, als es ihm zugerufen hatte, er habe die heilige Christnacht entweiht, klangen ihm in den Ohren. Ihm schien es klar zu werden, dass die Strafe für diesen Frevel sowie für seinen Lebenswandel überhaupt gekommen sei. Der Gedanke, dass er den gespenstischen Rächern nicht werde entrinnen können, erfüllte ihn mit Verzweiflung. Nun erlosch plötzlich sein Grubenlicht und er hielt sich nun in seiner Trostlosigkeit für vollkommen überzeugt, dass an ein Entrinnen in der Finsternis nicht zu denken sei, da er sich an einem ganz fremden Ort befand.

In diesem furchtbaren Augenblick aber kehrte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder der Gedanke an Gott in seinem Herzen ein. Sich auf die Knie werfend, betete er in höchster Angst: »Herr, sei meiner armen Seele gnädig!«

Da erhellte mit einem Mal ein glänzender Schein den unheimlichen Raum, ohne dass Niklas, der erstaunt aufgesprungen war, gewahr werden konnte, woher das Licht komme. Eine unsichtbare Macht hatte ihn erfasst und zog ihn unwiderstehlich rückwärts, sodass er sich nicht wenden und drehen konnte, sondern folgsam rückwärts schreiten musste. Plötzlich stieß er mit dem Rücken an eine Fahrt und in demselben Augenblick verschwand auch wieder das Licht, aber während des Verschwindens sah er auch ein kleines Kind in weißem Gewand über sich wegschweben. Kaum war wieder die Dunkelheit eingetreten, so hörte er schon aus der Ferne das Summen und Rascheln der Berggnome. Ohne sich zu besinnen, begann er rasch wie nie in seinem Leben die Fahrt hinaufzusteigen, während er aus der Höhe deutlich genug vernehmen konnte, wie die Gnome, von einem bläulichen Schein umgeben, aus einem alten eingebrochenen Stollen mit blitzenden Messern in der Hand herbeistürmten und ihn zu suchen begannen. Sie kamen bis an die Fahrt, auf welcher Niklas emporkletterte, und suchten nach dessen Fußstapfen.

»Dort ist er hinaus, dort ist er hinaus«, riefen die Stimmen durcheinander, indem sie den Fußstapfen folgten, welche, da Niklas rückwärts gegangen war, von der Leiter wegführten. Der geängstigte Flüchtling strengte alle seine Kräfte an, um den Verfolgern zu entrinnen, was ihm auch glücklich gelang, denn plötzlich sah er den gestirnten Himmel über sich. Die kalte Winterluft, die ihn anwehte, überzeugte ihn zu seinem höchsten Entzücken, dass er wieder in der Nähe von Menschen sei.

In allen Häuschen und Hütten war es hell, überall feierte man die heilige Christnacht. Vom Glockenturm ertönten die Glocken, welche zur Mette riefen. Die überstandene Todesangst und die wunderbare Rettung hatten auf Niklas einen tiefen Eindruck gemacht. Sein vorangegangenes Leben trat vor seine Seele, und er beschloss, ein anderer Mensch zu werden. Er sah die Leute zur Kirche gehen und auch ihn zog es mit Macht dorthin. Er wollte gleich heute mit einem neuen Lebenswandel beginnen, und seinem festen Willen gelang es auch.

Heiteren Mutes kam er aus der Mette nach Hause. Seine betrübte Frau erstaunte nicht wenig über das ruhige, friedliche Benehmen ihres Ehegatten, der zwar über das Vorgefallene ein tiefes Schweigen beobachtete, von nun an aber redlich bemüht war, seine bösen Gewohnheiten abzulegen und in der Tat ein anderer Mensch wurde.

Die nächste Christnacht brachte Niklas erbaulicher und heiterer zu als die vergangene und erzählte seiner glücklichen Frau am warmen Ofen, was er an demselben Abend des vorigen Jahres in der Grube erlebt hatte.

Quelle: Friedrich Wrubel, Sammlung bergmännischer Sagen, 1883