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Der kluge Hirtenknabe

Ein Venedigermännlein zeigte sich ein paar Jahre hinter einander auf der Alpe Saphal, wo es in Runßen und Tobeln sorgsam Steine zusammensuchte, mit denen es dann plötzlich wie der verschwand. Einmal kam ein Hirtenknabe zu diesem Männlein, als es eben wieder mit dem Ordnen und Packen seiner Steine beschäftigt war, und schaute ihm eine gute Weile zu, mochte aber das ganze Treiben als thöricht ansehen, denn er sagte halblaut bei sich selbst: 's gît doch närr'sche Lût uf der Welt.„ Darüber er grimmte aber das Venedigermännlein und brummte: „Du blöder Bube wirfst oft einer Kuh einen Stein nach, der mehr wert ist als die ganze Kuh.“

Diese Rede des Männchens faßte der Knabe gut ins Ohr und merkte sich auch genau das Aussehen der Steine, auf die der Venediger so erpicht war, und las dann später neben dem Viehhüten auch solche Steine zusammen. Als er nun schon einen tüchtigen Haufen solcher Steine zusammengebracht hatte, so ging er damit in die Welt, um sie an den Mann zu bringen, aber niemand wollte sie ihm abnehmen. Endlich kam er auf seiner Wanderung nach Venedig und bot dort einem vornehmen Herrn seine Steine zum Verkauf an; der Herr hieß ihn mit seiner Ware ins Haus kommen. Der Knabe ging und stieg mit dem noblen Venediger eine breite Marmortreppe hinan, und kam in einen großen, goldprunkenden Saal; dort verschwand dann der Venediger in einem Nebengemach. Über eine Weile kam aus demselben ein kleines Männlein heraus, das der Knabe sogleich als das Venedigermännlein von Saphal erkannte. Das Männlein musterte den Knaben und die Steine und sagte: „Du Spizbube, du wärst nun in meiner Gewalt, und ich könnte dich töten, weil du mir mein Handwerk abgelauscht hast. Doch für diesmal will ich dir das Leben schenken. Aber wehe dir, wenn du wiederkommst!„

Es zahlte ihm dann für die Steine eine große Summe Geldes aus, stellte ihn beim Abschiede vor einen Spiegel und sagte: „da kannst du noch schauen, was gerade jetzt deine Leute zu Hause machen.“ Der Knabe schaute in den Spiegel, und siehe, da gewahrte er sein väterliches Haus; die ganze „hûsêr“ (Familie) saß vor demselben um einen Tisch herum und war gerade am Mittagessen, an den Wänden des Hauses waren Sensen, Rechen und Heugabeln angelehnt. Dieses idyllische Bild weckte in ihm fast Heimweh, und er eilte mit dem Erlös der Steine nach Hause und ward ein wohlhabender Mann.

Quelle: Friedrich Wrubel, Sammlung bergmännischer Sagen, Seite 108-109