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Der Berggeist erscheint in der Gestalt des Steigers II

In einer oberschlesischen Steinkohlengrube wurde in einem neuen Flöz die erste Grundstrecke getrieben. Es war von ihr aus noch keine Abbaustrecke angesetzt worden. Man konnte also von dem Ort nirgends woandershin gelangen als zum Schacht und umgekehrt.

Eines Tages arbeiteten da zwei Brüder, der eine als Hauer, der andere als Schlepper. Außer ihnen befand sich auf der ganzen Sohle nur noch der Anschläger.

Als der Schlepper wieder mit einem gefüllten Wagen zum Schacht kam, fragte ihn der Anschläger: »Weshalb ist denn dein Bruder ausgefahren? Ist er denn krank? Er sah so bleich aus und hat mir auf meine Fragen gar nicht geantwortet. Er winkte mir nur, stellte sich in den Kübel und fuhr zutage.«

»Mein Bruder?«, sagte lächelnd der Schlepper, »mein Bruder liegt jetzt gerade ganz tief im Sohlenschram. Es fehlen an diesem nur noch wenige Zoll bis zu einem halben Lachter, dann will er sich ans Bohren begeben. Er ist also nicht ausgefahren, sondern liegt vor Ort. Ich habe ihn eben noch gebeten, vorsichtig zu sein, dass ihm die unterschrämte Kohle nicht auf den Leib fällt, denn ich hörte einige Male ein verdächtiges Knistern.«

»Du scherzt gewiss nur«, sprach gereizt der Anschläger. »Ich träume doch nicht. Ich habe meine Sinne vollkommen beisammen und erkläre dir, dein Bruder ist wirklich ausgefahren!«

»Nun, ereifere dich nicht«, sprach der Schlepper, »komm, ich will dich von deinem Irrtum überzeugen, komm mit vor Ort, da sollst du meinen Bruder sehen.«

Sie gingen hin und sahen ihn, aber wie? Die unterschrämte Kohle war plötzlich heruntergekommen und hatte den Hauer vollständig zerquetscht. Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Die beiden hatten Mühe, die Leiche unter dem Kohlenhaufen hervorzuholen.

Die Erscheinung am Schacht in Gestalt des Hauers war der Berggeist gewesen, der sich oft vor einem Unglück zeigt und manchmal die Gestalt dessen annimmt, der verunglücken soll.

Quelle: Friedrich Wrubel, Sammlung bergmännischer Sagen, 1883