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Das Marien-Bildchen

Oben in der Roßstraße steht ein niedliches Kapellchen, welches seine Entstehung bis in die ältesten Zeiten der Stadt hinauf datirt. In dem selben befindet sich ein wunderthätiges Bild der Gottesmutter und wurde das Kirchlein daher von urdenklichen Zeiten bis auf den heutigen Tag Marien-Bildchen genannt.

Als im Jahre des Heils 1656, am 2. Mai, die ganze Stadt Aachen durch eine furchtbare Feuersbrunst in einen Aschenhaufen verwandelt wurde, blieb dieses Kapellchen ringsum von brennenden und zusammenstürzenden Häusern umgeben, mitten in den Flammen unversehrt stehen. Schon vor dieser, besonders aber seit jener Zeit sah man bei Erdbeben, bei herrschenden Seuchen, bei Kinder-Krankheiten und andern Kalamitäten, welche die Stadt heimsuchten, dies Kirchlein mit Gläubigen erfüllt und von Schaaren derselben umlagert, welche zu Maria flehen, daß sie durch ihre Fürbitte bei Gott, die Leiden abwenden möge. So sahen wir es noch beim ersten Ausbruch der Cholera in Aachen im Jahre 1832.

Besonders aber in Kinder-Krankheiten nehmen Eltern und Geschwister ihre Zuflucht zu Marien-Bildchen. Wenn der Arzt nicht mehr zurathen und zu helfen weiß und den Eltern die drohende Gefahr, worin das Kind schwebt, nicht länger verbergen kann, dann suchen sie überirdische Hilfe. Sie schicken drei Kinder der Nachbarschaft zwischen sieben und neun Jahr alt, jedes mit einer Kerze versehen nach Marien-Bildchen. Vom Hause aus, wo das kranke Kindchen liegt, ziehen die kleinen Pilger unter fortwährendem Gebete nach dem Kapellchen. Hier angelangt zünden sie die Kerzchen an, stellen sie auf einen Leuchter hin, knien dort nieder und beten noch eine Weile für die Genesung des kranken Kindchens.

Die Kinder schauen dabei mit gespannter Aufmerksamkeit und mit beklommenen Herzen auf den Schein ihrer Kerzchen, denn es herrscht dabei der kindlich fromme Glauben, daß das Schwesterchen oder Brüderchen genesen werde, wenn die Kerzchen mit hellem Schein brennen, daß sie hingegen sterben werden, wenn die Flämmchen matt und trübe sind. Betend, wie sie zum Kapellchen hinzogen, kehren die Kinder von dort nach Hause zurück, wo man ihrer sehnsüchtig harret. Hier verkünden sie nun voll Zuversicht und freudigen Herzens, daß das kranke Kindlein genesen wird, denn die Kerzlein brannten hell und klar, oder sie theilen weinend und schluchzend ihre Befürchtungen mit, denn ach! die Kerzlein brannten matt und trübe.

Quelle: Dr. Joseph Müller, „Aachens Sagen und Legenden“, Verlag J.A. Mayer Aachen 1858