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Karls Jagdritt

Kaiser Karl war ein guter und treuherziger, aber auch ein ernster und strenger Herr. Er förderte Kunst und Wissenschaft, liebte den offenen und biedern Sinn und ehrte und schützte jede männliche Tugend auch im schlichtesten Kleide. Er war ein abgeschworner Feind allen Prunkes und eitlen Tandes. So wie er beim Besuche der Schulen den Unfleiß der Söhne seiner ersten Beamten oft tadelte und ernst rügte, so gab er auch deren Vätern bei vorkommenden Gelegenheiten nicht selten Ermahnungen und sprach ihnen sein Mißfallen über dies und jenes offen aus, oder er that ihnen in anderer Weise seine Meinung kund.

Durch die vielen Gesandtschaften, welche mit großem Pomp an Karls Hof erschienen, hatte sich allmälig der Sinn für Kleiderpracht und Luxus aller Art bei den meisten seiner Räthe und anderen hohen Beamten eingeschlichen. Sosehr nun der Kaiser darauf hielt, daß seine Leute bei außergewöhnlichen Anlässen, sowie er es selbst dann auch zu thuen pflegte, einen seines Hofes würdigen Glanz und eine fürstliche Pracht entfalteten, ebenso sehr war es ihm aber auch zuwider, daß sie im gewöhnlichen Leben und selbst bei Ausübung ihrer Amtspflichten geputzt und geschniegelt erschienen, während er selbst ganz einfache Kleidung trug.

Um diesen Herren nun sein Mißfallen an ihrer Kleiderpracht zu zeigen, benutzte er einen ausgeschriebenen Gerichtstag, an welchem dieselben sich in Sammt und Seide, mit Bändern und Federn geputzt, versammelt hatten. Als Karl eintrat und sie in diesem Anzuge erblickte, redete er sie in anscheinend ganz heiterer Stimmung also an: „Wie, meine Herren, ich habe Euch zu ganz ernsten Dingen hieher beschieden und Ihr erscheint geschmückt und geputzt wie zu Spiel und Tanz und anderlei edler Kurzweil! Wohlan denn, ich setze den Gerichtstag aus, heute wollen wir jagen, Eure Speere und Bogen sind herbeigeschafft und unten im Hofe stehen Pferde und Rüden bereit!“ So sprach er und schritt zur Thüre hinaus in den Hof, ihm folgte die ganze Versammlung und so ging es in raschem Trabe, der Kaiser an der Spitze in den Aachener Wald hinein.

Hei wie lustig war dies Jagen! Wo das Gestrüppe am dichtesten war, da sprengte der Kaiser vor, er scheute nicht Dornstrauch noch Bräme, von wirrem Pfad zu wirrem Pfad ging es unaufhaltsam weiter. Gar mühsam folgten die Herren vom Rathe, hier wie dort wurden ihre Kleider zerfetzt, an jedem Dornstrauch blieben Bänder, Fetzen und Flocken hängen und jeder sehnte sich nach dem Ende der Jagd oder nach einem Wamms und einem Pelzrock, wie sie der Kaiser trug. Erst spät am Abend kehrte er mit den Jagdgenossen in seinen Pallast ein, denn er hatte sie alle zur Abendmahlzeit eingeladen. Als er sie nun im hell erleuchteten Saale erblickte und ihre zerfetzte Anzüge sah, sprach er scherzend zu ihnen: „Meine Herren, Ihr scheint heute weniger gehetzt zu haben, als vielmehr gehetzt worden zu sein!“

Seit jenem Tage nahm die Kleidertracht an Karls Hofe zu seiner größten Freude merkbar ab, denn die Herren vom Rathe befürchteten eine abermalige Einladung zur Jagd.

Quelle: Dr. Joseph Müller, „Aachens Sagen und Legenden“, Verlag J.A. Mayer Aachen 1858