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Wittekind im Münster zu Aachen

Nach dreißigjährigem, blutigem Kampfe hatte Karl die Sachsen endlich im Weserthal so gewaltig auf's Haupt geschlagen, daß ihr ganzes Heer sich auflöste und in wilder Flucht nach allen Richtungen hin zerstob. Nach dem Sturze der Irminsul hatten auch die Kühnsten unter ihnen den Muth und das Vertrauen auf die Hilfe ihres Gottes verloren und sich schaarenweise taufen lassen.

Der tapfere und unbändige Herzog der Ost-Sachsen, Wittekind, sah mit Wehmuth und Ingrimm die Leichenfelder, sah des Volkes Untergang und Verderben und seine eigne Vernichtung. Er schwor daher auf dem Schlachtfelde, von Tausenden Leichen umgeben, dem Karl Blutrache, die er selber an ihm nehmen wolle.

Er warf dann über seine volle Rüstung ein Pilgerkleid, drückte den breitrandigen, mit Muscheln bedeckten Hut tief ins Gesicht und wanderte am Pilgerstabe nach Aachen, wo er als frommer Wallfahrer keinerlei Verdacht erregte. Bei seinem Wirthe erkundigte er sich, wie und wo er den Kaiser am leichtesten sehen und sich ihm nahen könne und erhielt die Antwort, daß derselbe jeden Morgen der heil. Messe, von den Kindern begleitet, im Münster beiwohne.

Am nächsten Tage in aller Frühe trat Wittekind voll Rachegedanken in das Münster. Die schöne, hohe Wölbung des Gotteshauses, die feierliche Stille einer bereits versammelten andächtigen Menge, das ernste Halbdunkel der weiten Bogengänge, nur erhellet von den Kerzen, die vom Altar her leuchteten, dies Alles erregte in des heidnischen Helden Brust bis dahin nie geahnte und nie gekannte Gefühle.

Als aber seine Blicke nun auf Karl fielen, da erwachte sein Ingrimm aufs Neue, er erinnerte sich seines Racheschwures, den nur das Blut des Kaisers lösen konnte, schon griff er nach dem kalten Stahl, um sein Herz zu durchbohren. In diesem Augenblicke tönte das Glöcklein des Meßners zum Sanktus, feierliche Klänge rauschten in sanften Melodien von der Orgel her, und das gesammte Volk sang im Chore heilig! heilig! heilig ist Gott!

Der Kaiser mit seinen Kindern und allen Anwesenden fielen auf die Knie und schlugen, das Haupt zur Erde gebeugt, reuig an die Brust, als der Priester den Leib des Herrn hoch empor hielt. Da glitt dem Sachsen-Helden die Hand unwillkührlich vom Griffe des Schwertes, eine unwiderstehliche Gewalt riß ihn aufs Knie, sein Herz war weich geworden und heiße Thränen rollten über seine Wangen. Er fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt, die Töchter des Kaisers, welche in weißen Gewändern um den Vater knieten, erschienen ihm wie schützende Engel, dessen Leben zu bewachen; die Klänge der Orgel waren für ihn Musik aus höhern Sphären; eine himmlische Macht griff tief in sein Herz und – er betete zum Gott der Christen.

Nach vollendetem Gottesdienste erhob sich der seltsame Pilger und näherte sich zum Erstaunen der Menge festen Schrittes dem Kaiser und reichte ihm zutraulich die Hand. „Mächtiger Karl, sprach er, der Sachsen-Herzog Wittekind steht vor Dir, als Dein Feind trat ich voll Rachegedanken in dies Gotteshaus, ich verlasse dasselbe versöhnt als Dein Freund. In dieser Stunde hat Dein Gott mich selbst erleuchtet, ich schwöre Irmin ab und werde von nun an den Gott der Christen bekennen.“

Voll Staunen und tiefer Rührung erkannte Karl den kühnsten und tapfersten seiner Feinde, den Sachsen-Herzog, im härnen Gewande, er drückte ihn jetzt als Freund an sein Heldenherz und rief dem Volke zu: „seht her, das ist der Sachsen Leu! ihm hat der Herr in dieser Stunde gnädig sich erwiesen und Herz und Sinn für Christi Lehre ihm erschlossen!“ und zu Wittekind gewendet sprach er: „sei Du fortan mein Freund, sei Du auch fürderhin der tapfern Sachsen tapferer Herzog, sei Du mit mir dem Christenthume ein neuer Schutz und Schirm!“

Noch an demselben Tage empfing Wittekind die heil. Taufe, wobei Karl selbst ihm Pathenstelle vertrat. Nach andern Erzählungen soll der Kaiser die heilige Handlung mit großer Feierlichkeit an dem Helden selbst vollzogen haben. Die Bekehrung Wittekinds veranlaßte Tausende seiner Stammgenossen, sich in den Schoos des Christenthumes aufnehmen zu lassen.

Quelle: Dr. Joseph Müller, „Aachens Sagen und Legenden“, Verlag J.A. Mayer Aachen 1858