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Emma und Eginhard

Die jüngste der beiden Töchter der Fastrada hieß Emma. Sie war der Liebling des Vaters, denn sie besaß nicht nur einen schlanken, schöngeformten Leib und eine anmuthige, liebreiche Gesichtsbildung, sondern sie war auch in hohem Maaße mit Gaben des Geistes und Gemüthes ausgestattet und hatte einen offenen Sinn für Kunst und Wissenschaft. Dazu verstand sie alle weibliche Arbeiten und wetteiferte in der Hauswirthschaft mit den erfahrensten Frauen ihrer Zeit. Ihre Geschicklichkeit und Rührigkeit bei sehr verständigem und stets heiterem Sinne und der Umstand, daß sie das Lieblingsgericht der Vaters, den Rehbraten recht schmackhaft zu würzen und ganz nach seinem Geschmacke, wie niemand sonst zu bereiten wußte, dies Alles machte, daß Karl sie seinen andern Töchtern vorzog und mit besonderer Liebe an ihr hing und sie nie anders als mit dem Schmeichelworte: mein Immchen anredete.

Emma suchte aber auch in allen Stücken des Vaters Willen zu erfüllen, sie hegte für ihn die größte Hochachtung und Verehrung und eine wahrhaft kindliche Liebe. Sie hatte nur ein Geheimniß des Herzens, welches sie dem lieben, aber auch ernsten Vater nicht anvertrauen durfte und dies Geheimniß war die Liebe zu Eginhard, Karls jüngstem Rathe und Geheimschreiber. Die Liebenden erkannten nur zu sehr die große Kluft, welche durch ihre Geburt und ihre Lebensstellung zwischen ihnen lag und mußten den Zorn des Kaisers befürchten, wenn er Kunde von dieser Herzens-Angelegenheit erhalte.

Obgleich Eginhard der jüngste unter den Räthen war, so erfreute er sich dennoch des besondern Vertrauens und Wohlwollens seines Herrn, denn er zeichnete sich durch Verstand und Klugheit, durch Wissenschaft und Kenntnisse vor Allen aus; dazu besaß er ein ritterliches Ansehen und hatte dem Kaiser schon oft Proben seiner Gewandtheit und Kühnheit, sowie seines entschlossenen Muthes in Gefahren des Krieges und der Jagd abgelegt. Dies Vertrauen fürchtete er bei Karl zu verscherzen, wenn er ihm das Geständniß seiner Liebe zu Emma machen werde. Es blieb daher nichts übrig, als ihre Liebe vor der Welt geheim zu halten und sie im Herzen zu verschließen.

Um aber fern vom Hofzwange und aus den Augen der Späher ein Stündchen sorglos zu verplaudern, gestattete Emma, daß Eginhard sie bei nächtlicher Weile von Zeit zu Zeit in ihrem einsamen Kämmerlein besuchte. Da saßen sie denn oft halbe Nächte in keuscher Liebe und erzählten sich Mancherlei über vergangene Tage, über die Ereignisse des Hauses und träumten wachend über künftige, glückliche Zeiten. Beide besaßen zu hohe Achtung für christliche Zucht und gute Sitten, als daß sie bei ihren Zusammenkünften den Anstand auch nur im mindesten je verletzt hätten.

So hatten sie in trautem Gespräche eine November-Nacht in seligem Entzücken verlebt, schon nahte die Dämmerung, und der hellleuchtende Mond schien bald sein Licht zurückziehen zu wollen, als Eginhard Abschied nahm. Doch welcher Schrecken ergriff die Liebenden, als sie zur Thüre traten; es hatte in der Nacht geschneit und der ganze Erdboden war mit einer dünnen flockigen Decke überzogen. Die Fußtritte eines Mannes bis zur Thüre der Kaisertochter konnten nicht nur Verdacht erregen, sondern mußten einen Frevel ahnen lassen und einen Schimpf auf Emma werfen. Beide erkannten die Gefahr und Eginhard Sinne schienen sich zu verwirren, da faßte Emma den Entschluß, ihren Geliebten bis zum Eingangsthore durch den weiten Hofraum zu tragen, weil die weiblichen Fußspuren allen Verdacht fern halten würden. Sie faßte ihn auf ihren kräftigen Rücken und trug ihn behende und wie sie hoffen durfte ganz unbemerkt bis zum Schloßthore.

Sie hatte sich aber bitter getäuscht, denn ihr Vater hatte sich bereits vom Lager erhoben und stand sinnend und nachdenkend über wichtige Reichs Angelegenheiten am Fenster, und erkannte beim Mondschein seine Tochter Emma und die Bürde, welche sie trug. Sein Gesicht legte sich in ernste Falten und sein Herz entbrannte in Zorn über den Schimpf, den sein eigenes Kind und derjenige über ihn gebracht hatten, den er mit seinem Vertrauen beehrt und mit Wohlthaten überhäuft hatte. Gleich am selben Morgen ließ er alle seine Räthe in den Gerichtssaal bescheiden, um sofort ein Urtheil über eine wichtige Angelegenheit zu fällen.

Die Räthe waren versammelt, und Karl trat ein mit gemessenen Schritten und setzte sich mit beklommenem Herzen und düsteren Blicken auf den Thron. Tiefes Schweigen herrschte im Saale und die Räthe saßen da in ängstlicher und kummer voller Erwartung, denn noch nie hatten sie den Kaiser so niedergebeugt gesehen, wie heute. Endlich begann der Gebieter also zu reden: „Ich habe euch zu dieser ernsten Stunde versammelt, damit ihr ein strenges Urtheil fällen möget über einen Frevel, der eueres Kaisers Haus beschimpfet! so saget denn, welche Strafe verdient die Königstochter, welche bei nächtlicher Weile einem Buhlen Einlaß zu ihrem Gemache verstattet?“

Die Räthe erstaunten, sprachen sich aber einstimmig dahin aus, daß in Sachen der Liebe „Verzeihung“ das Beste sei. Darauf fragte der Kaiser wieder: „und welche Strafe verdient der Buhle, der über seines Herrschers Haus durch diesen Frevel Schimpf und Schande bringt?“ Von allen Räthen erfolgte die selbe Antwort, daß in Sachen der Liebe „Verzeihung“ das Rathsamste sei, nur der jüngste von ihnen, Eginhard, der zuletzt seine Meinung abgab, sprach: „er hat den Tod verdient!“

„Ja wohl,“ sprach darauf der Kaiser, „sie haben beide den Tod verdient! Was soll aus Zucht und Sitte in meinem Reiche werden, wenn dieselben ungeahndet in meinem Hause verletzt werden dürften? Doch ich will die Milde statt der verdienten Strenge walten lassen, mögen daher die Schuldigen auf immer aus meinem Hause verbannt sein und nie wieder vor mein Antlitz treten!“ So sprach er, verhüllte sein Haupt und weinte. Starr, wie die Leichen, saßen die Räthe dabei diesem ernsten Spruche, denn sie wußten nur zu gut, wer davon betroffen wurde. Eginhard erhob sich und verließ schweigend den Gerichtssaal.

Emma vernahm des Vaters Spruch mit tiefgebeugtem, reuevollem Herzen, jedoch mit Fassung und Ergebung. Sie zog aus ihrem Haar die goldnen Spangen und Perlen, legte ihr golddurchwirktes Kleid ab und zog eine schlichte, graue Bekleidung an und verließ weinend und schluchzend des theuern Vaters liebes Haus von allen Hausgenossen bejammert und beweint.

Als sie so über den weiten Hofraum schritt, flog ihr Lieblingstäubchen gleichsam als wollte es Abschied nehmen, herbei und setzte sich in gewohnter Weise auf ihre Schulter. Sie küßte das arme Wesen recht herzlich, badete es mit ihren Thränen und ließ es dann davon fliegen. Planlos eilte Emma auf demselben Wege, den auch Eginhard eingeschlagen hatte, dem Walde zu. Nachdem sie so eine Weile gewandert waren, erkannten sie sich erst wieder und weinten bitterlich. Sie gelobten sich, das harte Schicksal, was sie gemeinsam betroffen, ohne Murren und Groll gegen den Vater geduldig zu ertragen und treu zusammen auszuharren bis etwa der Tag der Erlösung für sie kommen werde. Sie lenkten immer tiefer in den Wald hinein auf unwegsamen Pfaden durch Laub und Gestrüppe, bis Emma von Müdigkeit erschöpft und von Hunger und Durst ermattet nicht mehr weiter konnte.

Eginhard bemerkte zum Glück in der Nähe Kohlenbrenner, welche sie freundlich aufnahmen und Emma und ihn mit Speise und Trank erquickten. Ihre Laubhütte, welche sie noch den selben Abend ohnehin verlassen wollten, diente jetzt den Verbannten zum Obdach für die Nacht. Eginhard erhandelte von den heimziehenden Köhlern noch einige Geräthe von Eisen, sowie irdene Trink und Kochgeschirre.

Als sie am nächsten Morgen erquickt und gestärkt erwachten, waren ihre Gemüther gefaßter und mit dem Unglücke schon vertrauter, als am Tage vorher, nur bejammerten sie beide, daß kein priesterlicher Segen ihren ehelichen Bund heiligen könne. Eginhard pflanzte aber ein aus zwei jungen Baumstämmchen gefertigtes Kreuz in die Erde und voll Andacht und Inbrunst knieten sie vor dasselbe nieder und flehten Gott an, daß er Zeuge sein möge ihrer gegenseitigen Gelöbnisse, und daß er den hier geschlossenen Bund segnen wolle. Kein menschliches Auge hatte diese ernste und feierliche Handlung zugesehen, nur Emmas Lieblingstäubchen war ihr in die Wildniß gefolgt und hatte als Zeuge ihrer Trauung im nahen Gehölze gesessen, und flog als Emma sich nach langem Gebete emporrichtete auf ihre Schulter, als käme es zum Glückwunsch und als Zeichen einer bessern Zukunft.

Nicht weit von der Köhlerhütte im dichtern Walde hatte Eginhard eine Quelle entdeckt, dort beschloß er sich eine feste Hütte zu bauen und mit Emma ein thätiges und vergnügtes Leben zu führen. Gleich ging er rüstig ans Werk, und unterstützt von seiner Gattin stand in kurzer Zeit eine Wohnung da, die nicht nur geeignet war, sie gegen Hitze und Kälte zu schützen, sondern im Innern auch manche Bequemlichkeiten darbot. Dem wackern Waidmann fehlte es nicht an dem köstlichsten Wildprett aller Art für die Küche, der helle Quell lieferte das Getränke. Was aber in diesem ersten Winter an Gemüsen und Früchten noch fehlte, das hoffte Eginhard werde ihnen in Zukunft nicht mangeln, dafür werde sein Fleiß im nächsten Jahre schon sorgen.

So verstrichen den treuen Gatten fünf Jahre in Liebe und Eintracht. Fleiß und Thätigkeit, die frische Waldluft, einfache und gesunde Nahrung erhielten sie rüstig und stark. Unterdessen saß der Kaiser oft daheim in seinem Pallaste und härmte sich. Er hatte seiner Emma lang verziehen und wünschte nichts sehnlicher, als sie wieder an sein Herz drücken zu können. Allein so viele Kundschafter er auch nach allen Richtungen des Reiches hin ausgesandt hatte, um ihre Spur zu entdecken, sie kehrten alle heim ohne Nachricht von ihr geben zu können, denn sie suchten die in weiter Ferne, welche in der Nähe waren. Nur die Jagd ließ den Kaiser zuweilen seines Grames für einen Tag vergessen.

Bei einer solchen Jagd im Aachener Forste geschah es nun, daß er sich plötzlich bei Verfolgung eines Hirsches von seinen Genossen getrennt sah, und weil er von scharfem Ritte sich etwas ermüdet fühlte, so stieg er vom Rosse und streckte sich an einer lichtern Waldstelle im Schatten uralter Eichen ins Moos, um auszuruhen und seine Jagdgefährten zu erwarten. Er war erschöpfter als er selber glaubte, daher umfing ihn bald ein sanfter Schlummer.

Plötzlich ward er aufgeweckt durch ein Geräusch, was von seinem Schwerte kam, welches ihm zu Häupten an der Eiche gelehnt stand. Er blickte auf und sah, daß ein Knäblein sich des Schwertes bemeistert hatte und mit demselben davon eilen wollte. Der Kaiser richtete sich empor und rief dem Kinde lächelnd zu: „gib kleiner Mann mein Schwert mir her, es ist zu groß für deine Händchen!“ Der blondlockige Kleine blieb stehen, sah den unbekannten Mann mit seinen großen, blauen Augen dreist an, und erwiederte, indem er die Wehre fester an sich drückte: „das Schwert geb ich Dir nicht, ich bring es der Mutter, denn Du willst damit ihre Hirschkuh und des Vaters Wild tödten!“

Dem Kaiser gefiel das dreiste und kecke Wesen des Knaben, der mühsam das Schwert weiter schleppte, er folgte demselben von Neugier getrieben und sah nach wenigen Schritten die Behausung seiner Eltern. Als er sich derselben nährte, trat eine stattliche junge Frau mit einem Säugling an der Brust hervor, hieß den Fremden willkommen und lud ihn ein, das Mahl mit ihr und ihrem Manne zu theilen, der bald von der Jagd heimkehren werde.

Fast hätte Emma ihre Fassung verloren, denn sie hatte den Kaiser alsbald erkannt, sie eilte daher, um ihre Verlegenheit zu verbergen, in die Hütte zurück, ihrem Gaste einen Imbiß und einen frischen Trunk zu holen. Sie unterhielt sich dann eine Weile mit demselben und beantwortete alle Fragen des Kaisers mit so viel Klugheit und Bescheidenheit, daß er im höchsten Grade darüber erstaunt war, in dieser Wildniß eine solche Frau zu finden, denn er erkannte seine Tochter in ihrer jetzigen Tracht nicht wieder.

Während dieser Unterhaltung kam Eginhard aus dem Walde zurück, er hatte ein Reh erlegt, welches er auf seinen Schultern trug. Er bot dem Gaste freundlichen Gruß und drückte ihm herzlich die Hand. Sein lang herunterwallendes Haar und der kräftige, volle Bart, die gebräunte Stirne und der eigenthümliche Jägeranzug machten ihn dem Kaiser ganz unkenntlich. Das Waidwerk bot den Männern reichen Stoff zur Unterhaltung; unterdessen hatte die Frau das Mahl bereitet und forderte sie nun auf in die Hütte zu treten.

Hier wurde der Kaiser durch die Reinlichkeit und Zierlichkeit des Gemaches in hohem Grade überrascht. Die Wände waren mit Fellen bekleidet und mit Hirschgeweihen, bunten Steinen und mancherlei Naturseltenheiten der Gegend ausgeschmückt. Mit Verwunderung sah der Kaiser, daß die runde Tafel, an die er sich nieder ließ, genau so eingerichtet war, wie er es zu Hause gewohnt war. Als aber endlich die Hausfrau den duftenden Braten zerlegte und zwar genau so, wie er es einst seine Emma zu thun selbst gelehrt hatte, da ergriff ihn ein seltsames Ahnen, mit forschendem Blicke schaute er ihr ins Antlitz und helle Thränen rollten über seinen grauen Bart. Emma und Eginhard stürzten ihm zu Füßen, er hieß sie mit den herzlichsten Worten aufstehen und voll Rührung und Entzücken umarmte und küßte er die wiedergefundenen Kinder und die lieben Enkel. Sie priesen alle Gott für seine Güte, die des Vaters Schritte in ihre Hütte gelenkt hatte.

Die Sonne war bereits untergegangen und des Mondes Silberschein glänzte durch die Zweige der Eichen und Buchen, da ertönte aus der Ferne Hörnerklang der Jagdgefährten des Kaisers, immer näher und lauter vernahm man das Rüdengebell, und endlich fand sich die ganze Jagdgesellschaft bei der Hütte ein. Hocherfreut hieß der Kaiser sie willkommen und sagte dann, indem er auf seine Königliche Tochter, auf seinen geliebten Schwiegersohn und die holden Kinder zeigte: „Seht her, heute habe ich einen werthern und köstlichern Fund gethan, denn je! wohlauf jetzt nach Aachen!“

So kehrten Emma und Eginhard in des Vaters Haus zurück und erheiterten sein hohes Alter. Eginhard beschrieb dann des großen Helden thatenreiches Leben und ward für die Nachwelt der treueste Verkünder seines nie erlöschenden Ruhmes. An der Stelle, wo die Hütte im Walde gestanden hatte, ließ Eginhard ein Jagdschloß erbauen und nannte es zur Erinnerung an die dort mit Emma verlebten Tage „Emmaburg.“ Das Schloß selbst hat die Zeit in Trümmer gelegt und ein neues Gebäude darauf entstehen lassen, welches bis auf den heutigen Tag den Namen „Emmaburg“ treu bewahrt.

Quelle: Dr. Joseph Müller, „Aachens Sagen und Legenden“, Verlag J.A. Mayer Aachen 1858