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Die Mittagsfrau (Pripolniza)

  L. Mon. Schrift 1797. II. 744. Sammlung msc. Gräve S. 59. 
  Haupt u. Schmaler, end, Lieder II. 268.

Die Mittagsfrau (wendisch Pripolniza) ist ein weibliches, großgewachsenes, weißgekleidetes Wesen, welches zur Mittagszeit von 12 bis 2 Uhr auf den Feldern zu erscheinen pflegt. Diese Mittagsfrau schweifte mit einer Sichel in der Hand über die Felder und stand unerwartet vor denjenigen, welche es versäumt hatten, Mittags die Feldarbeit zu unterlassen und nach Hause zu gehen. Die Ueberraschten mußten ein scharfes Verhör über den Anbau des Flachses und das Leinwandweben bestehen, und dabei so ausführlich sprechen, daß damit die Zeit bis zwei Uhr ausgefüllt wurde. Hatte diese Stunde geschlagen, so war es mit ihrer Macht aus und sie ging von dannen. Wußten aber die Geängstigten auf ihre Fragen nicht zu antworten, und das Gespräch bis zu dieser Zeit im Gange zu erhalten, so schnitt sie ihnen den Kopf ab, oder erwürgte sie, oder verursachte ihnen wenigstens eine mit heftigen Kopfschmerzen verbundene Krankheit. Auch wer im Stande ist, das Vaterunser rückwärts ohne Anstoß zu beten, kann sich dadurch retten.

Bei trübem Himmel oder zur Zeit eines herannahenden Gewitters war man vor ihr sicher. Noch jetzt spricht man im Scherz zu demjenigen, welcher während der Mittagszeit ohne Noth auf dem Felde arbeitet: Nebojiš so, so Pripolniza na tebé pfiñdze, d. h. fürchtest du dich nicht, daß die Mittagsfrau auf dich kommen wird? und die sprichwörtliche Redensart: Wona so praša kaž Pripolnica, d. h. sie fragt wie die Mittagsfrau – kann man in jeder Spinnstube hören.

Anmerkungen:

1. Die Sage der Russen ist fast dieselbe. Der Russe wirft sich bei Annäherung des Gespenstes auf den Boden. Thut er's nicht, so bricht sie ihm Arme und Beine. Indessen giebt es einen geheiligten Baum, der stets da, wo die Mittagsfrau erscheint, in der Nähe wächst und dessen Rinde sogleich die Verletzungen heilt. Boxhorn in re publ. Moscov. Part. I.

2. Wahrscheinlich ist die Pripolniza eine koboldartige Personifikation der ebenfalls am hellen - Mittage wandelnden Mara. Sie theilt die Doppelnatur dieser Göttin und dokumentirt dieselbe allerdings auf eigenthümliche Weise als Beschützerin des Flachsbaues und als personificirter Sonnenstich. Die Pripolniza ist eine wendische Sphinx, ein Doppelsymbol der Weisheit und des Todes. Sie fragt und examinirt die Menschen zu Tode, gleich der böotischen Sphinx - des Oedipus.

3. Andere (Preusker Ill. 223.) schreiben Psschespolniza und leiten diesen Namen unmittelbar ab von pssches, hindurch, und polnico, der Mittag. Es sind aber auch andere Ableitungen möglich. Polo heißt auch Feld, potny, die Fülle, polnicz, füllen, sanskr. phul, blühen. Pri heißt im Sanskrit fruchtbar sein. Von dieser Silbe kommt der griechische Priapus wie der wendische Pripagela (s. o.). Letzterer wird auch Pripalega geschrieben und ist vielleicht die männliche Nebenfigur zu Pripolnica.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862