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Der verlorene Jude

Die 81jährige Frau Bandow in Fünfeichen erzählte:

„Ich habe in meinem Leben schon einmal den verlorenen Juden gesehen. Ich war an einem Nachmittage allein zu Hause, als ein noch jugendlicher jüdischer Mann in meine Stube kam. Er verlangte nichts zu kaufen, bot auch nichts an, sondern bat in seiner jüdischen Sprechweise um einen Bissen Brot, auf einmal in den Mund zustecken.

Ich sagte zu ihm: „Unser grobes Bauernbrot wird Ihnen ja nicht schmecken!„ worauf er erwiderte: „Wird schmecken, gebe Se mir nur!“ Ich fragte ihn dann: „Sie sind wohl schon weit gereist?„ Er antwortete: „Mein Weg ist weit! Muß ich immer reisen durch die Welt!“ Darauf ging er fort, kam aber nach kurzer Zeit zurück und bat noch um einen Bissen Brot. Ich sagte mir sofort: „Heute hast du den verlorenen Juden gesehen!“ fragte aber, um sich zu vergewissern, noch den Prediger. Dieser hörte sich meine Erzählung mit an und sagte, er könne es auch nicht ergründen, aber der Glaube sei da.“

Die Frau wurde in ihrer Annahme durch diese Antwort nur noch bestärkt; eine weitere Bestätigung ihrer Meinung brachte ihr die Schenkersfrau eines Nachbardorfes, bei welcher der Jude übernachtet hatte. Sie berichtete, daß er bei ihr nichts gegessen, auch nicht geschlafen hätte. Sie habe ihm zwar Streu zurechtgemacht; aber er sei während der ganzen Nacht in der Stube hin und her gegangen.

Noch im hohen Alter war die Erzählerin erfreut darüber, daß sie das Glück gehabt hatte, den verlorenen Juden zu sehen.

Quelle: Niederlausitzer Volkssagen vornehmlich aus dem Stadt- und Landkreis Guben, gesammelt und zusammengestellt von Karl Gander, Berlin, Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft, 1894