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Die gerettete Aebtissin im Kloster Marienthal

  Manuskript des Breslauer Vereins No. 30. 
  Schönfelder, Geschichte von Marienthal S. 96 u. 187.

Am 11. Mai 1427 überfielen die Hussiten das Kloster Marienthal bei Ostritz, plünderten es und brannten es nieder. Die meisten Nonnen waren schon nach Görlitz geflohen, wo sie in der Gasse untergebracht wurden, die noch heute die Nonnengasse heißt; die Aebtissin aber, Anna von Gersdorf, hatte, von Anhänglichkeit an das Kloster und frommem Gottvertrauen beseelt, das Kloster nicht verlassen wollen.

Bei dem Ueberfalle flüchtete sie sich daher, um der Schande und dem Tode zu entgehen, über die Neiße in den nahen Wald, bemerkt aber bald, daß sie einem sie verfolgenden Soldaten nicht entkommen kann. Plötzlich wendet sie sich um und kehrt zurück. Ihre hohe wundervolle Gestalt, ihre majestätische Haltung und das lebendige Gottvertrauen, das aus ihren Augen und ihrem ganzen Wesen spricht, hemmt die Schritte ihres Verfolgers. Von der plötzlich sie umstrahlenden über irdischen Glorie im Innersten ergriffen, fällt er vor ihr nieder und erblindet.

Die Aebtissin aber kam unangefochten nach Görlitz.

Anmerkungen: Ein schönes Freskogemälde im Bibliotheksaale des Klosters, welches die Aebtissin Theresia II. Senftleben im Jahre 1738 anfertigen ließ, verherrlicht diese wunderbare Begebenheit.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862