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Eine verstorbene Mutter besucht ihr Kind

  Von Frau Nidel in Caaso; 
  schriftlich durch Lehrer Becker in Luckau 

In Grötzsch war einmal eine Frau, die hatte eine Tochter. Der Frau starb der Mann, und sie heiratete einen andern, und der liebe Gott schenkte den Eheleuten wieder eine Tochter. Darauf starb die Mutter. Nun pflegte die größere Tochter das kleine Mädchen vom Morgen bis zum Abend und sang dabei liebliche Lieder. Des Abends aber, wenn das kleine Mädchen schlafen wollte, kam seine Mutter, beugte sich über die Wiege und klagte unter lautem Gewimmer.

Das geschah zweimal. Da ging man hin zum Pfarrer und fragte, was man thun solle. Der sagte, man solle die Mutter anrufen und fragen, was sie aus dem Grabe triebe zu ihrem Kinde. Als am dritten Abend die Mutter wiederkam, fragte die größere Tochter: „Mutter, was läßt dich nicht ruhen im Grabe? Was treibt dich her zu deinem Kinde?“ - „Ach,“ sprach die Mutter, „ich komme, um zu sehen, wie es meinem Kinde geht, pflege du es nur recht gut; im Himmel ist dir schon ein goldenes Stühlchen bereitet.“ Die Mutter verschwand und kam nie wieder.

Quelle: Niederlausitzer Volkssagen vornehmlich aus dem Stadt- und Landkreis Guben, gesammelt und zusammengestellt von Karl Gander, Berlin, Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft, 1894