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Das dreiste Mädchen

I

  Mündlich

In Pinno wohnten Leute dicht am Kirchhofe, und wenn die Tochter abends in die Spinnstube ging, mußte sie stets über den Kirchhof. Die jungen Burschen neckten sie damit und sagten, es würde ihr schon einmal etwas passieren, wenn sie immer so allein über den Kirchhof ginge.

Eines Abends geht sie wieder zur Spinnstube und sieht auf einem Grabe eine Gestalt sitzen. Sie glaubt aber, es wäre einer von den jungen Burschen, der sie schrecken wolle, und geht darauf zu und reißt der Gestalt die Sachen vom Leibe, läuft damit in die Spinnstube und spricht: „Ihr habt mich anführen wollen; es ist euch aber nicht gelungen; ich habe demjenigen, der mich anführen wollte, das Zeug weggenommen.“ Da sagten die übrigen Spinnmädchen zu ihr: „Du hast ja Leichenzeug in den Händen.“

Als sie nach Hause ging, fürchtete sie sich. Da gingen die jungen Burschen und Mädchen mit; es passierte ihr aber nichts. In der Nacht klopft es an ihr Fenster, und eine Stimme ruft: „Gieb mir meine Sachen, mich friert!“ Sie fürchtet sich aber, die Sachen herauszugeben, und es klopft immer wieder. Da macht sie das Fenster ein wenig auf und langt die Sachen mit einem Stocke hinaus. Draußen nimmt sie aber niemand ab. Dagegen kommt das Rufen und Klopfen alle Nächte wieder.

Nun ging das Mädchen mit der Mutter zum Pastor und erzählte es dem. Der Pastor sagte, er und der Lehrer würden mitgehen und die Sachen wieder an dieselbe Stelle tragen, wo das Mädchen sie weggenommen. Als sie alle drei am Grabe stehen, da hören sie, wie das Mädchen ruft: „Mein Jesus, mein Jesus!“ Plötzlich ist das Mädchen aus ihrer Mitte verschwunden, und sie haben nur noch ein paar Fetzen von ihren Sachen neben sich liegen. Der Böse hatte das Mädchen zerrissen und mitgenommen.

II

  Mündlich aus Gubinchen 

In einem Dorfe war mal ein sehr dreistes Mädchen, das wollte gern etwas vom Kirchhofe haben; denn das soll gut sein. Das Mädchen ging nachts 12 Uhr auf den Kirchhof. Da sah es auf einem Grabe eine weiße Gestalt sitzen, die ein weißes Tuch um den Kopf gebunden hatte. Das Mädchen band ihr das ab und nahm es mit.

In der nächsten Nacht kam aber die weiße Gestalt an das Bett des Mädchens und wollte das Tuch wiederhaben, und so alle Nächte.

Da lief das Mädchen in seiner Angst zum Pastor und erzählte es dem. Der sagte, sie müsse das Tuch wieder dahin tragen, wo sie es geholt habe. In der folgenden Nacht ging das Mädchen auf den Kirchhof, und da saß die Gestalt wieder auf dem Grabe, und es band ihr das Tuch um den Kopf. Als das Mädchen damit fertig war, bekam es eine Ohrfeige, daß es gleich über den Haufen fiel und tot war.

Quelle: Niederlausitzer Volkssagen vornehmlich aus dem Stadt- und Landkreis Guben, gesammelt und zusammengestellt von Karl Gander, Berlin, Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft, 1894