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Die Schwanjungfrauen

  Haasow

Ein Knabe bemerkte einmal in der Mitte eines Sees, welcher in einem Walde gelegen war, drei schneeweiße Schwäne. Die Schwäne hatten den Knaben kaum gesehen, so schwammen sie auf das Ufer zu. Dem Knaben gefiel das zutrauliche Wesen der Thiere so, dass er am Ufer entlang ging und eine Stelle sudite, wo er sich ihnen möglichst nahem konnte. Endlich traf er eine seichte Stelle. Er wollte schon in das Wasser hinein waten, als er einen Kahn mit einem Ruder versehen am Ufer erblickte. Er stieg sogleich in den Kahn, ergriff das Ruder und folgte den Schwänen, welche immer dicht vor ihm her schwammen, allein so nahe er ihnen auch kam, ergreifen liessen sich dieselben von ihm nicht.

Kaum hatte der Knabe auf diese Weise die Mitte des Sees erreicht, so verfiel er in einen tiefen Schlaf. Als er nach langer Zeit erwachte, fand er sich in einem himmelblauen Bett, vor ihm aber standen drei schone Jungfrauen. Er fragte, wo er sich befinde. Die Jungfrauen sagten, er sei tief unter dem See in einem Schlosse, sie selbst wären die drei Schwäne, welche er auf dem See gesehen habe.

Darauf forderten ihn die Jungfrauen auf, er solle ihnen folgen, sie wollten ihn überall im Schlosse herumführen. Der Knabe folgte den schönen Mädchen. Nachdem sie im Schlosse Alles besehen hatten, führten sie ihn in den Schlossgarten. Dort stand Alles in üppiger Pracht: das Gras war so hoch, dass es dem Knaben über dem Haupte zusammenschlug.

Der Knabe verbrachte eine lange Zeit bei den Jungfrauen, endlich aber wurde doch die Sehnsucht nach der Oberwelt in ihm wach. So lag er eines Tages im tiefen Grase und gedachte voll Trauer seiner alten Mutter. Da stand plötzlich ein altes Weib Vor ihm und fragte, warum er so traurig sei. Der Knabe sagte den Grund seines Schmerzes. Da forderte ihn das alte Weib auf, er solle ihr folgen, sie werde ihn zu seiner Mutter fahren. Der Knabe sagte aber, er werde das nicht thun, er könne seine Freundinnen, welche ihn mit Wohlthaten überhäuft hätten, nicht heimlich verlassen. Kaum hatte der Knabe das gesagt, so standen die drei Jungfrauen vor ihm, das alte Weib aber war verschwunden.

Von den drei Mädchen stagte das eine zu ihm: „Wir haben Dich nur Versuchen wollen und Dir deshalb das Weib gesandt; da wir Dich aber treu befunden haben, so wollen wir Dich, wenn Du darauf bestehst, selbst auf die Erde zurückbringen“ Der Knabe blieb bei seinem Wunsche. Da brachten ihn die Schwanjungfrauen auf die Oberwelt zurück, also dass er zu seiner Mutter heimkehren konnte. Aber sein ganzes Leben hindurch hat der Knabe eine tiefe Sehnsucht behalten nach seinen drei schönen Freundinnen im Schlosse tief unten im See.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880