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Der junge Riese

Ein Mann, der nicht gern was thut, läßt seine Frau und seinen Sohn sitzen und wandert aus. Die Frau läßt sich's erst recht sauer werden, um sich und ihr Kind durchzubringen. Der Junge wird größer und größer, will auch gern etwas mit verdienen, es ist aber keine Gelegenheit dazu. Deshalb entschließen sich beide und suchen auch das Weite.

Auf der Reise geht der Knabe einmal vom Wege ab in die Hecke, er sieht da nämlich ein Bändlein am Baum hängen, das holt er sich und bindet's um seinen rechten Arm. Als er zurückkommt, muß er über einen Wagen springen, im Sprung greift er einen Ast am Baum und reißt so den Baum mit um. Da merkt er, daß er mehr Kraft hat, als bisher. Er packt nach einem stämmigen Baum und im Nu hat er auch den aus der Erde gerissen. Da ist er überzeugt, das Bändchen hat ihm die Riesenkraft gegeben und spricht zu seiner Mutter: Mutter, nun sind wir gerettet. Jetzt fürcht' ich mich vor nichts mehr. Jetzt will ich uns schon Brod verdienen. Solche Kraft hat nicht ein jeder.

Sie gehen weiter, es wird Abend, sie kommen in dem Wald an ein Haus, darin wohnt ein Riese, ein furchtbar großer Kerl. Weil der vor der Thür steht, so frägt der Sohn, ob er sie diese Nacht wohl beherbergen wolle, sie wollten's gern bezahlen. Nein, sagt der Riese, bezahlen ließ er sich das nicht. Er wolle ihnen aber einen andern Vorschlag machen. Sie sollten diese Nacht und immer bei ihm bleiben und es gut haben, wenn sie seine Frau und der Sohn sein Sohn sein wollten. Sie alle beide sind damit zufrieden, bleiben da und haben's auch gut.

Bei der Arbeit sieht der Riese aber, daß sein Sohn noch mehr Kraft hat, als er und sagt deshalb zu seiner Frau, dem Jungen müßten sie über die Seite helfen, sonst mache der ihnen noch viel zu schaffen. Die Frau will erst nicht daran; denn es ist doch ihr Fleisch und Blut, es ist ihr Sohn, muß aber endlich, sonst ist sie ihres Lebens nicht sicher. Der Riese befiehlt, sie solle sich morgen krank stellen, dann wolle er den Jungen nach dem Berg schicken, der gegenüberläge, von dort solle er Heidelbeeren holen und drei davon essen. Dann sänke er in Schlaf und würde dann von den Räubern, die dort drüben hausten, aus dem Weg geräumt. So kommt's auch.

Am folgenden Morgen steht die Frau nicht auf, der junge Riese fragt, wo seine Mutter bliebe? Da sagt der alte Riese sie läge krank im Bette; es könne ihr aber leicht wieder geholfen werden, wenn sie von jenem Berge ein paar Hände voll Heidelbeeren genösse. Da spricht der Sohn, der seine Mutter unendlich lieb hat, und gar nichts Arges ahnt, er wolle gleich hingehen und ein Körbchen voll holen. Da räth ihm sein Vater, wenn die Heidelbeeren schnell helfen sollten, so müsse er drei davon essen. Zuvor geht er aber doch erst einmal zu seiner Mutter und will sie, ehe er weggeht, erst noch einmal sehen. Sie stellt sich dabei auch sehr krank. Hierauf nimmt er Abschied und geht eilig fort.

Unterwegs nach dem Berge begegnet ihm ein Löwe, der kommt auf drei Beinen zu ihm ein und streckt ihm die eine Tatze entgegen. Der junge Riese fürchtet sich aber nicht, geht darauf los, faßt die Tatze, untersucht sie und findet einen Dorn darin stecken. Er zieht ihm den Stachel heraus und verbindet die Pfote mit seinem Tuche. Aus Dankbarkeit bleibt der Löwe bei ihm und schnurrt und wedelt mit dem Schwanze. Beide kommen mit einander an den Berg, der junge Riese pflückt sein Körbchen voll Heidelbeeren und ißt, wie ihm sein Stiefvater vorher gerathen, drei Heidelbeeren davon. Kaum hat er sie aber hinter, so wird er so todtmüde, daß er sich hinlegen und schlafen muß. Der Löwe aber legt sich neben ihn hin. Kaum ist aber der junge Riese eingeschlafen, so kommen die Räuber; der Löwe rüttelt seinen Wohlthäter hin und her, zuletzt giebt er ihm mit der Tatze eine Ohrfeige, daß er aufwachen soll, er wacht aber nicht auf. Da kann der Löwe nicht anders, und geht auf die Mörder los. Zwei schlägt er gleich nieder, einen zerreißt er in der Geschwindigkeit, die andern greifen zum Hasenpanier.

Der junge Riese schläft ruhig bis an den andern Morgen fort, dann wacht er auf und geht mit seinem Begleiter nach Haus. Vor der Hausthür wendet der Löwe um und geht wieder zu dem Wald. Der alte Riese ist ärgerlich, daß sein Stiefsohn wieder kommt, thut aber freundlich gegen ihn. Die Kranke ist unterdeß gesund geworden. Kurze Zeit geht darnach wieder hin, da wird die Mutter wieder krank, und der Sohn muß fort und Heidelbeeren pflücken, mit dem Bemerken, wenn er den Korb voll hätte, drei Heidelbeeren davon zu essen. Er geht. Kaum tritt er in den Wald, so ist der Löwe wieder bei ihm und begleitet ihn. Es geht wieder so, nur statt der Räuber kommt diesmal eine Schaar Wölfe, und der junge Riese schläft. Der Löwe schüttelt und rüttelt erst den Schläfer, er wacht aber nicht auf; da beginnt der Löwe dazwischen zu fahren, und die Wölfe machen, daß sie fortkommen. Der junge Riese ist wieder gerettet.

Am andern Morgen begleitet ihn der Löwe bis vor die Hausthür und wendet dann um. Die Hausfrau ist schon wieder genesen, und der Stiefvater spricht, er bliebe jedesmal lange aus. Ja, sagt der junge Riese, er hätte erst ein wenig geschlafen. Der Vater sagt, wahrscheinlich wäre gleich darnach, als jener die Beeren gegessen hätte, von seinem Essen die Mutter gesund geworden. Nach etlichen Wochen ist die Mutter des Nachts wieder krank geworden, und der Sohn geht gleich von selbst fort und will Heidelbeeren holen. Alles geht, wie das vorige Mal. Statt der Wölfe kommt diesmal eine Schlange. Der Löwe versucht, seinen Wohlthäter zu wecken, da er aber nicht erwacht, so beginnt er den Kampf mit der Schlange und bezwingt sie. Das hat aber Arbeit gekostet; denn die Schlange hätte das edle Thier um ein Haar übermannt. Wie der Schläfer erwacht, so blutet der Löwe noch aus vielen Wunden, die ihm die Schlange versezt hat und kann sich noch kaum erholen.

Da aber der Erwachte das besiegte Unthier von einer Schlange sieht, nimmt er seinen Erretter in Arm, drückt ihn voll Dank an seine Brust, und nimmt ihn mit nach Haus. Als sein Vater sieht, daß der Sohn in solcher Gesellschaft kommt, quillt ihm vor Aerger das Herz, und er beschließt, ihn auf andre hinterlistige Weise umzubringen. Aber wie, das weiß er noch nicht. Vor der Hausthür wendet der Löwe aber auch diesmal wieder um. Des Nachts, als der Sohn im Bette liegt, nimmt der Vater einen Doppelspieß, der gerade auf beide Augen paßt, und sticht dem jungen Riesen mit einem Stich beide Augen aus.

Geblendet sucht er das Weite und kommt auf die Heerstraße, da ist aber auch gleich sein treuer Löwe wieder bei ihm. Der unglückliche Sohn klagt ihm sein Leid und frägt, ob er kein Mittel wüßte, ihm zu helfen. Da fängt der Löwe an`zu reden und spricht: Hörst du das Rollen eines Wagens? Ja, sagt der Geblendete, warum? Warte, antwortet der Löwe, in dem Wagen kommt dir Hülfe und Rettung. Es dauert nicht lange, so ist der Wagen da, es steigt eine feine, freundliche Dame heraus und bittet den Blinden, mit dem Löwen mit in den Wagen zu steigen. Beide thun's und fort geht's im Galopp. Sie fahren den ganzen Tag. Gegen Abend, wie die Sonne bald untergehen will, kommen sie an einen See; die Dame sagt zu dem Blinden, er möge einmal aussteigen; er thut's. Sie führt ihn an's Wasser und sagt, er solle sich damit waschen. Auch das thut er. Und o Wunder, nach und nach kommt ihm sein Augenlicht und am Ende kann er ganz sehen.

Da drückt er der Dame die Hand und sagt, er könne ihr nicht genug danken, daß sie ihm wieder zu seinem Augenlicht verholfen habe, wenn er es ihr nur wieder vergelten könne! O, sagt sie, das könne er wohl, ob er ihr Mann werden wolle? Sie wäre eine verwünschte Prinzessin, ihr Vater wäre auch verwünscht, und das wäre der Löwe, der da bei ihm wäre. Wenn er nun wirklich so dankbar wäre, wie er spräche, so wären sie beide gerettet. Da schwor er bei Gott, daß er so dankbar sei, wie er gesagt hätte. Da verwandelte sich der Löwe in einen alten stattlichen Mann, die Dame in ein allerliebstes junges Mädchen. Alle drei umschlangen sich und schlossen den Bund ewiger Treue; dabei fand's sich, daß der Löwe ein verwünschter König, die Dame eine verwünschte Prinzessin, der alte Riese der Zauberer gewesen ist, der sie verwünscht hatte. Als der junge Riese das hörte, wie an all dem Unglück der alte Riese Schuld gehabt hatte, da fuhren sie zurück, der junge Riese schlug seinen Stiefvater todt und nahm seine Mutter mit. Nachher ist er noch König geworden und hat mit seiner Jungfrau recht glücklich gelebt. Nun ist's aus.

Quelle: Sagen und Märchen aus dem Oberharz, gesammelt und herausgegeben von August Ey im Jahre 1862