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Das Erbstück

  Schönebeck

In einer Stadt lebte ein Mann mit seinen drei Kindern. Da geschah es, dass er schwer krank wurde. Er liess seinen Sohn imd seine zwei Töchter vor sein Bett kommen und sprach zu ihnen: „Bald werde ich sterben. Seid stets gut und brav, so werdet Ihr immer glücklich sein.“ Darauf segnete er sie, nicht lange darauf starb er. Nachdem er begraben war, theilten sich seine Kinder in die Erbschaft. Der Vater hatte aber nicht mehr hinterlassen, als seinen Segen und drei Pfennige. Ein jedes Kind erhielt von der Erbschaft einen Pfennig. Der Sohn nahm alsbald von den Schwestern Abschied, um in die Welt zu gehen und dort sein Glück zu versuchen. Er war schon mehrere Tage unterwegs, als er in einen grossen Wald kam. Dort sass ein Männchen unter einem Baume, das sprach zu ihm: „Schenke mir eine Gabe.“ Der junge Mann sagte: „Gut, ich will Dir meine Erbschaft schenken.“ Mit diesen Worten gab er ihm den Pfennig. Das Männchen sprach: „Für Deine Gabe will ich Dir drei Wünsche gewähren. Du kannst wählen. Aber wende sie gut an, das wird Dein Glück sein“ Der Jüngling erwiederte: „So mochte ich mich in eine Taube, einen Fisch und einen Hasen verwandeln können.“ Das Männchen sagte: „Es sei Dir gewährt. So oft Du Dich schüttelst, wenn Du verwandelt bist, erlangst Du Deine menschliche Gestalt wieder.“ Darauf verschwand das Männchen.

Der Jüngling verwandelte sich schnell in eine Taube und flog in alle Lüfte. Er kam endlich über eine grosse Stadt: hier liess er sich auf ein Haus nieder. Da hörte er, dass Krieg sei und dass der König junge Leute anwerben lasse. Darauf flog die Taube vom Hause nieder, schüttelte sich und wurde wieder zum Jüngling. Darauf ging derselbe in das Werbehaus, nahm dort Geld und wurde ein Kriegsmann. Nach einiger Zeit zogen die Krieger zu einer bevorstehenden Schlacht aus. Auf dem Schlachtfelde ordnete sie der König. Er wählte auch eine Anzahl Krieger aus, welche immer um ihn sein sollten. Der Jüngling gehorte zur Zahl der Auserwählten, so dass er beständig in der Nahe des Königs war.

Nicht lange darauf kam es zu einer Schlacht, in welcher der König zweimal geschlagen wurde. Er versammelte seine Obersten und das Häuflein der Auserwählten um sich, darauf sprach er: „Jch habe meinen Zauberring vergessen; deshalb wurden wir geschlagen. Wer von Euch kann mir denselben in einer Stunde auf das Schlachtfeld bringen, damit ich eine neue Schlacht beginne? Meine Tochter, die Prinzessin, hat den Ring in Yerwahrung.“ Alle schwiegen still bis auf den Jüngling, welcher zum Könige sprach: „In einer Stunde will ich mit dem Ring hier sein.“ Da sagte der König: „Mein Schloss ist weit, bringst Du mir den Ring in einer Stunde, so sollst Du meine Tochter zur Frau haben.“

Da ging der Jüngling eilig vom Schlachtfelde hinweg und verwandelte sich in eine Taube. Die Taube kam an einen grossen See, schüttelte sich und fiel als Fisch in das Wasser. Der Fisch durchschwamm eilig den See. Als er am jenseitigen Ufer angelangt war, schüttelte er sich wieder und verwandelte sich in einen Hasen. Der Hase lief was er laufen konnte. Als er das Schloss in der Ferne erblickte, verwandelte er sich schnell wieder in eine Taube. Im Schlosse war ein Fenster offen. An dem Fenster sass die Prinzessin. Das Täubchen flog in das offene Fenster und setzte sich auf den Schooss der Prinzessin, welche gar nicht wusste, was das bedeuten sollte. Da sprach das Täubchen: „Dein Vater schickt mich zu Dir her und lässt sich den Zauberring von Dir erbitten. Gieb ihn aber schnell, damit Dein Vater in der Schlacht siegt.“Das Täubchen sprach weiter: „Ziehe ans meinem Flügelein drei Federn klein und gedenke mein.“

Die Prinzessin zog drei Federn aus den Flügeln des Täubchens. Da schüttelte sich dasselbe, wurde ein Fisch und sprach: „Ziehe aus meinem Rücken fein drei Schuppen klein und gedenke mein.“ Darauf zog die Prinzessin drei Schuppen aus dem Rücken des Fisches und legte sie in ihren Schooss zu den drei Federn. Wieder schüttelte sich der Fisch und ward ein Hase. Der Hase sprach zur Prinzessin: „Hau´ ab ein Stückchen klein von meinem Schwänzlein und gedenke mein.“ Da hieb die Prinzessin ein Stück vom Schwänzchen ab. Sogleich schüttelte sich der Hase wieder. Auf einmal stand ein schöner Jüngling vor ihr und sprach: „Hebe ja die drei Zeichen auf, denn daran wirst Du mich einst erkennen.“ Darauf gab die Prinzessin dem Jüngling den Ring und sprach: „Gedenke meiner, denn seit dieser Stunde bin ich die Deine.“ Der Jüngling verwandelte sich jetzt geschwind in eine Taube und flog zum Fenster hinaus. Dann verwandelte er sich in einen Hasen, damit er schneller auf das Schlachtfeld komme.

Im Heere des Königs war auch ein zauberkundiger Mann. Der hatte die Verwandlungen des Jünglings gesehen und dachte bei sich: „Dein Bogen soll jedes Thier, das zum Heere läuft, niederschiessen; auf diese Weise wirst Du den Jüngling tödten, den Ring dem Könige bringen und die Prinzessin zur Frau erhalten.“ Der Mann sah den Hasen kommen und schoss ihn nieder. Den Ring, welchen der Hase in seinem Schwänzchen hatte, brachte er dem König. Der König nahm den Ring und steckte ihn an seinen Finger, dann zog er mit seinem Heere von Neuem gegen den Feind, welchen er jetzt in die Flucht schlug.

Nach der Schlacht liess der König den Mann vor sich kommen und sprach: „Du hast mein Königreich errettet und sollst meine Tochter zur Frau haben“ Darauf brach der König mit seinem Heere auf und zog in die Hauptstadt. Der König und seine Krieger wurden hier von allem Volke freudig empfangen.

Als der König mit seinen Getreuen in das Schloss gekommen war, sollte ein grosses Fest gefeiert werden, nämlich die Verlobung der Prinzessin mit dem Manne, welcher den Ring gebracht hatte. Der König ging mit dem Mann in die Gemächer der Prinzessin und theilte ihr mit, dass dieser ihr Bräutigam sei, denn er habe sein Reich gerettet. Die Prinzessin aber sprach : „Dies ist nicht der rechte; derjenige, welchem ich den Ring gegeben habe, war viel schöner als der, welcher vor mir steht. Ich mag ihn nicht.“ Da sprach der König: „Ich habe mein Wort vor Allen gegeben und muss es als König halten. Doch ich gebe Dir eine Bedenkzeit von etlichen Tagen; sind diese vorüber, so wird er unbedingt Dein Gatte.“

Während dies Alles geschah, lag der Hase noch immer auf dem Felde, aber er war nicht in Verwesung übergegangen, sondern noch ganz frisch. Da kam das Männchen, stiess den Hasen mit dem Fusse an und sprach: „Stehe auf, jetzt ist es Zeit in die Stadt zu gehen.“ Sofort war der Hase gesund und munter. Eilig sprang er auf, schüttelte sich und flog als Taube zur Hauptstadt. Als er dort angekommen war, schüttelte er sich wieder und stand als schöner Jüngling vor dem Schlossthore, aber Niemand liess ihn hinein.

Da schüttelte sich der Jüngling wieder, wurde eine Taube und flog durch ein offenes Fenster in das Schloss. Hier verwandelte er sich wieder in einen Jüngling und kam nach langem Suchen endlich in das Zimmer der Prinzessin. Da war die Freude des Wiedersehens gross, denn die Prinzessin hatte geglaubt, der Jüngling sei auf dem Schlachtfelde gefallen. Darauf liess sie den König rufen und sprach zu ihm: „Hier ist der rechte Bräutigam.“ Aber der König wollte das nicht glauben. Der Jüngling jedoch sagte: „Dass ich der bin, welcher den Ring geholt hat, kann ich Euch beweisen, denn die Prinzessin hat die Zeichen davon in den Händen.“ Er winkte der Prinzessin zu, diese ging zu einem Schrank und holte die Federn, Schuppen und das Stück vom Hasenschwänzchen herbei. Der Jüngling verwandelte sich in eine Taube. Siehe, da fehlten die drei Federn aus dem Flügel; er verwandelte sich in einen Fisch, da fehlten die drei Schuppen. Endlich verwandelte er sich in einen Hasen. Siehe, da fehlte ein Stück vom Schwänzchen. Da sprach der König: „Ja, Du bist der rechte. Derjenige, welcher mich und Dich betrogen hat, soll sterben.“ Sogleich wurde der falsche Bräutigam ergriffen und im Schlosshofe aufgehängt.

Am andern Tage hielt die Prinzessin mit dem schönen Jüngling Hochzeit. Der alte König hatte dazu heimlich die beiden armen Schwestern des Jünglings holen lassen. Nun war die Freude bei Allen gross. Das junge Paar aber lebte zufrieden und glücklich.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880