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Die kluge Tochter des Bauers

  Oberlausitz

Es war einmal ein Bauer, der hatte eine kluge Tochter. Einstens hatte der Gutsherr vom Dorfe seinen Mörser verloren und liess überall bekannt machen, wer ihn fände, solle ihn auf sein Schloss bringen. Der Bauer und seine Tochter waren eines Tages auf dem Felde, da fanden sie zufällig die Keule von dem Mörser. Der Bauer sprach zu seiner Tochter: „Gehe zum Herrn und trage die Keule hinauf,“ die Tochter aber sagte: „Ich gehe nicht, Vater, denn der Herr wird sagen: wo die Keule ist, da ist auch der Mörser.“ Da ging der Bauer allein und gab die Keule ab. Der Herr aber sagte: „Wo die Keule ist, da wird auch der Mörser sein.“ „Ja,“ sprach der Bauer, „das hat meine Tochter auch gesagt.“ Da sprach der Herr: „Wenn Deine Tochter so klug ist, so schicke sie mir her.“ Das Mädchen ging zu dem Herrn und der Herr sprach: „Wenn Du so klug bist, wie Dein Vater sagt, so will ich Dich auf die Probe stellen. Du sollst zu mir kommen, nicht bei Tage, auch nicht bei Nacht, nicht in Kleidern und auch nicht nackt, nicht zu Fusse und nicht zu Pferde.“ Das Mädchen sagte: „Das will ich thun,“ und wartete bis der nächste Mittwoch kam. An dem Tage nahm es einen Ziegenbock, zog sich die Kleider aus, hüllte sich in ein Fischnetz und setzte sich auf den Ziegenbock. So ritt die Tochter des Bauers zum Schlosse des Herrn. Derselbe stand vor seiner Thür. Als das Mädchen ihn sah, sprach es: „Ich komme nicht zu Fuss, auch nicht zu Pferde, nicht in Kleidern und auch nicht nackt, nicht bei Tag, auch nicht bei Nacht, denn heute ist Mittwoch und das ist kein Tag.“ So hatte die Tochter des Bauers die Aufgabe des Gutsherrn gelöst und überall sprach man von ihrer Klugheit.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880