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Der kluge Dieb

  Branitz 

Ein Dieb war durch seine Meisterstreiche so berühmt geworden, dass ein reicher Herr ihn zu Tische einlud, um ihn näher kennen zu lernen. In Folge einer Wette brachte es darauf der Dieb fertig, der Frau des Herrn Ring und Bettlacken zu stehlen, trotzdem sie selbst im Bette lag und den Ring am Finger trug. In Folge einer zweiten Wette, nach welcher der Dieb einem Knechte des Herrn, der gerade pflügte, einen Ochsen stehlen sollte, versteckte sich dieser in einem Gebüsch in der Nähe des Ackernden und rief: „Durch Schaden wird man klug, durch Schaden wird man klug!“ Die Worte wiederholte er in einem fort. Als das Geschrei gar nicht aufhörte, wurde der Knecht endlich neugierig, liess das Gespann im Stich und begann, den Rufenden in der Haide zu suchen. Sofort machte sich der Dieb an das Gespann, schnitt dem einen Ochsen den Schwanz ab und steckte ihn dem andern in das Maul. Den Ochsen ohne Schwanz aber trieb er von dannen. Der Knecht fand in der Haide Niemand, von seinen Ochsen aber, als er zum Acker zurückkehrte, nur noch einen; da derselbe einen Ochsenschwanz im Maule hatte, so glaubte er, dieser habe seinen Kameraden gefressen. Klagend kam er zu seinem Herrn: der aber wusste Bescheid und musste dem Dieb auch die zweite Wette bezahlen.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880