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Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein

  Nach Büsching II. 17.

Eine Frau hatte drei Töchter, die hießen Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein; denn die älteste batte drei Augen, die andere zwei Äugen und die jüngste nur ein Auge. Das eine bei der jüngsten und das dritte bei der ältesten stand aber mitten auf der Stirne. Darum nun, weil das mittelste zwei Augen hatte wie jedes andere vernünftige Menschenkind, wurde sie von der Mutter und den Schwestern gehaßt, mußte immer die abgelegten Kleider der andern anziehen, bekam nichts zu essen als was die andern übrig ließen und obendrein Scheltworte und Schläge.

Die Frau aber hatte eine Ziege, die mußte Zweiäuglein alle Tage am Feldraine hüten. Als sie eines Tages draußen bei ihrer Ziege saß und vor Hunger und Traurigkeit bitterlich weinte, siehe da trat eine Fee zu ihr und fragte sie liebreich, was sie weine? Zweiäuglein erzählte der guten Fee ihr trauriges Schicksal und die gute Fee tröstete sie und sprach: Weil du ein so braves Mädchen bist, will ich dir helfen. Sage nur immer zu deiner Ziege: Zicklein meck! Tischlein deck! so wirst du immer genug zu essen und zu trinken haben und wenn du satt bist, brauchst du blos zu sagen: Zicklein meck! Tischlein weg! so wird Alles wieder verschwinden. So sprach die Fee und verschwand. Zweiäuglein aber, ganz überglücklich und von Herzen dankbar, versuchte sogleich das neu gelernte Kunststück. Und siehe, kaum hatte sie zu ihrer Ziege gesagt: Zicklein meck! Tischlein deck! da stand vor ihr ein Tischlein, sauber gedeckt und mit den herrlichsten Speisen und Getränken besetzt. Zweiäuglein langte sogleich tüchtig zu und aß sich zum erstenmal in ihrem Leben ordentlich satt. Dann sprach sie: Zicklein meck! Tischlein weg! und Flugs verschwand die ganze Bescheerung vor ihren sichtlichen Augen.

Nun hatte Zweiäuglein alle Tage vollauf zu leben und verschmähte natürlich die magern Bissen, die ihr die böse Mutter reichte. Da wußten die zu Hause gar nicht, was das zu bedeuten habe, und eines Tages wurde ausgemacht, daß Einäuglein mit auf die Weide gehen sollte. Aber Zweiäuglein segte sich neben die böse Schwester auf den Feldrain und erzählte ihr so lange lauter langweilige Geschichten bis Einäuglein ihr eines Auge zufiel. Und Zweiänglein fing an zu singen: Einäuglein wachst du? Einäuglein schläfst du? Aber Einäuglein schlief ganz fest und schnarchte nur so.

Da sprach Zweiäuglein ihr Sprüchlein und da erschien ihr Tischlein und da aß sie sich satt und dann sprach sie ihr anderes Sprüchlein und Alles war wieder verschwunden. Als endlich Einäuglein erwachte, da sprach Zweiäuglein: du hast aber recht lange geschlafen, komm, wir müssen nach Hause gehen. Und Einäuglein konnte zu Hause gar nichts berichten und entschuldigte sich mit ihrem einen Auge, mit dem könne sie nicht so viel sehen, als andere mit zweien oder dreien.

Da schickte die Mutter des andern Tages Dreiäuglein mit auf die Weide. Aber Zweiäuglein setzte sich neben ihre böse Schwester auf den Feldrain und erzählte ihr so lange lauter langweilige Geschichten bis Dreiäuglein ihre drei Augen zuzufallen anfingen. Allein anstatt nun zu singen: Dreiäuglein wachst du? Dreiäuglein schläfst du? sang sie aus Versehen: Dreiäuglein wachst du? Zweiäuglein schläfst du? da blieb das dritte Auge Dreiäugleins offen, ohne daß es Zweiäuglein merkte und mit diesem dritten Auge sah sie dann Alles mit an. Als sie nun nach Hause kamen, erzählte Dreiäuglein Alles haarklein der Mutter und diese war darüber so zornig, daß sie auf der Stelle Zweiäugleins Ziege schlachtete.

Zweiäuglein war nun so arm wie vorher und saß wieder traurig und in Thränen auf dem gewohnten Feldrain. Da kam aber wieder die gute Fee und tröstete Zweiäuglein und sagte ihr, sie solle sich nur die Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben lassen und an der Hausthürschwelle vergraben.

Zweiäuglein that wie ihr geheißen ward und vergrub bei Sonnenuntergang in aller Stille die Eingeweide der Ziege an der Hausthürschwelle, und siehe da, den nächsten Morgen stand vor der Hausthür ein wunderschöner Baum mit silbernen Blättern und goldenen Aepfeln. Da gingen sie alle hinaus, um den Baum zu erklettern und die goldenen Aepfel zu pflücken, aber der Baum war wie lebendig und sie purzelten herunter, wenn sie hinauf klettern wollten und wenn sie nach den Früchten griffen, bogen sich die Zweige zurück, so daß sie auch nicht einmal ein Blättlein erlangen konnten. Aber wenn Zweiäuglein kam, so schmiegte sich ihr der Baum mit den Zweigen entgegen und die goldnen Aepfel kamen ihr wie von selber in die Hände, so daß sie schnell eine ganze Schürze voll hatte und die andern alle wüthend waren vor Neid.

Es kam aber gerade ein schöner fremder Herr am Hause vorbeigeritten. Als sie den von ferne sahen, ergriffen sie Zweiäuglein und steckten sie unter ein Faß. Der schöne fremde Herr kam heran und begehrte einen Zweig von dem wunderbaren Baume. Und sie versuchten alle nach einander den Baum zu erklettern, aber der Baum war wie lebendig und sie purzelten alle herunter und wenn sie nach den Früchten griffen, bogen sich die Zweige zurück, so daß sie auch nicht einmal ein Blättlein erlangen konnten. Da war der schöne fremde Herr sehr verwundert und sagte, der wahre Besitzer des Baumes sei wohl nicht zu Hause und ob denn Niemand im Haufe sei, der die goldenen Aepfelbrechen könnte. Nein, sagten die drei, Niemand.

Aber Zweiäuglein unter dem Fasse hörte Alles mit an und nahm einen ihrer goldenen Aepfel aus der Schürze und ließ ihn leise unter dem Fasse hervorkollern, daß er bis zu den Füßen des schönen fremden Herrn rollte. Da sprach der schöne fremde Herr: der wahre Besitzer ist unter dem Fasse, ging hin und hob das Faß auf. Da kam Zweiäuglein heraus und erzählte ihm Alles. Der aber sah, daß Zweiäuglein nicht blos die reichste, sondern auch die schönste von den drei Schwestern sei und begehrte sogleich sie zu heirathen. Zweiäuglein pflückte nun den ganzen Baum ab, daß es ein ganzer Wagen voll Gold und Silber wurde und zog mit dem schönen fremden Herrn auf sein Schloß und wurde eine vornehme Dame. – Die böse Mutter aber und Einäuglein und Dreiäuglein ärgerten sich darüber so ungeheuer, daß sie bald darauf starben.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862